Den Grundsatz “Hilf mir, es selbst zu tun” haben viele von uns so oft gehört oder gelesen, dass er uns schier zu den Ohren heraushängt. Für manche Kritiker verbirgt sich dahinter lediglich ein pädagogischer Romantizismus, der zur Kuschelpädagogik führt, aber doch nicht zu modernsten Unterrichtskonzepten. Denkste!
Ich beziehe mich hier auf folgenden Beitrag in einem noch druckwarmen Sammelband:
Messner, R. & Blum, W. (2019). Der Mythos des offenen Unterrichts – unter Einbeziehung von Befunden aus dem DISUM-Projekt. In U. Steffens & R. Messner (Hrsg.), Unterrichtsqualität. Konzepte und Bilanzen gelingenden Lehrens und Lernens (Grundlagen der Qualität von Schule, S. 57–89).
Die beiden emeritierten Professoren Rudolf Messner (Schulpädagogik und Bildungsforschung) und Werner Blum (Didaktik der Mathematik) beschäftigen sich hier mit einem traditionellen Schulstreit, nämlich…
Frontalunterricht vs offener Unterricht
Einleitend referieren sie folgende Erfahrungen
Die Befürworter der direkten Instruktion verwiesen […] auf die unzweifelhaft bestehenden, sehr robusten Effekte eines lehrergesteuerten, stötrungspräventiven, aufgabenorientierten und klar strukturierten Frontalunterrichts […]
Die Diffusität des Formenrepertoires und das Fehlen einer einschlägigen, bildungswissenschaftlichen Forschung sind die Gründe, warum den Anhängern des sogenannten offenen Unterrichts kein überzeugender Nachweis gelungen ist, dass durch die von ihnen propagierte Praxis bei SuS Leistungsvorteile im Verständnis fachlicher Inhalte erzielt werden können. (Messner und Blum 2019, S. 60)
Unterschiedliche Effekte offenen Unterrichts
Die beiden Verfasser zitieren Studien, die zu dem Fazit gelangen,
dass offene Unterrichtsformen vergleichsweise höhere Effekte im Nicht-Leistungsbereich (›non-achievement outcomes‹) hervorbringen, z.B. mehr Selbstbewusstsein und Kreativität der Lernenden und positive Einstellungen zur Schule. Diese hochwertigen Wirkungen gehen jedoch mit unterdurchschnittlichen Effekten in den Fachleistungen (›academic achievement‹) einher. […] Die Schlussfolgerung, welche in der Wahrnehmung und Bewertung offener Unterrichtsformen höchst einflussreich wurde: Offener Unterricht kann nicht zugleich qualitativ hochwertige fachliche und nicht fachliche Leistungen hervorbringen. (Messner und Blum 2019, S. 61, Hervorhebung von mir)
Weinerts drei Typen von Lehrmethoden
Neben anderen hat sich auch der Entwicklungspsychologe Franz Emanuel Weinert mit diesem Gegensatz befasst und versucht, ihn in einer Synthese aufzuheben, die jedem der beiden Ansätze ein bestimmtes Gut zuschreibt.
Es war konsequent, dass Weinert (Weinert, 1997, S. 50-52) im Anschluss an die angloamerikanischen Ergebnisse unter dem Motto ›Jedes Lernziel erfordert einen anderen Unterricht‹ drei Typen von ›Lehrmethoden‹ unterschieden hat, nämlich (a) lehrergesteuerte direkte Instruktion (Lernziel: intelligenter Wissenserwerb), (b) Projektarbeit (Lernziel: praxisnahe Handlungskompetenzen) und (c) angeleitetes selbstständiges Lernen (Lernziel reflexiv verarbeitetes Wissen über das eigene Lernen und Handeln). (Messner und Blum 2019, S. 61)
Synthese: Offenheit und Lehrerintervention
Der Streit lässt sich beilegen, wenn man bedenkt, dass offener Unterricht durch Lehrkräfte angeleitet werden muss – ein Prinzip, das Maria Montessori wunderbar auf den Punkt gebracht hat: “Hilf mir, es selbst zu tun!”
Im Unterricht als einem Beziehungsgeschehen bedeutet Offenheit vielmehr, durch geeignete instruktive Hilfen nach dem Montessori-Prinzip ›Hilf mir, es selbst zu tun!‹ das Lernen, das die Lehrenden den Lernenden nicht abnehmen können, zu einem sich in Selbstständigkeit vollziehendem Geschehen werden zu lassen. […] Die dazu nötige Selbststeuerung des Lernens durch die Lernenden muss von den Lehrenden ermutigt, motiviert, herausgefordert, unterstützt und mit Feedback begleitet werden. […] Schlechter Frontalunterricht besteht darin, dass Lehrpersonen nicht das Eigenlernen der SuS inszenieren, sondern dieses auf die Rezeption vorstrukturierter Lernwege reduzieren. ›Offenheit‹ missverstehen heißt, die SuS in ihrem Lernen allein zu lassen. (Messner und Blum 2019, S. 64, Hervorhebungen von mir)
Untersuchungsergebnisse der (Mathematik-) Studie an Realschülern bestätigen den alten Grundsatz
Messner und Blum beschreiben anschließend ihre DISUM-Studie an Realschülern. Dabei steht DISUM für “Didaktische Interventionsformen für einen selbstständigkeitsorientierten aufgabengesteuerten Unterricht am Beispiel Mathematik”
Statt Frontalunterricht und offene Unterrichtsformen als gegensätzliche Praxisformen anzusehen, bedarf es, aufs Ganze gesehen, einer Synthese von lehrergeleitetem Unterricht und selbstständigem Lernen der SuS [Schülerinnen und Schüler].
[…] Genau besehen nutzt der operativ-strategische Unterricht im DISUM-Konzept das direktive Vorgehen, um durch geeignete Interventionen der Lehrpersonen nach dem Montessori-Prinzip ›Hilf mir, es selbst zu tun‹ die für das Erreichen der angestrebten Kompetenzziele unerlässlichen selbstständigen Lernphasen der SuS zu initiieren. Lernwirksame Offenheit wird durch instruktive Hilfen erst hergestellt. Das Montessori-Prinzip betont eben auch – ›Hilf mir‹ – dass es, damit Lernende etwas selbstständig tun können, der begleitenden Unterstützung durch Lehrkräfte bedarf […]. (Messner und Blum 2019, S. 80–81, Hervorhebungen von mir)
Damit bestätigt sich das Diktum von Maria Montessori als keinesfalls weltfremde und romatische Kuschelpädagogik, sondern als top aktuell im Lichte zeitgemäßer didaktischer Untersuchungen (zumindest dieser einen).

Literatur
Messner, R. & Blum, W. (2019). Der Mythos des offenen Unterrichts – unter Einbeziehung von Befunden aus dem DISUM-Projekt. In U. Steffens & R. Messner (Hrsg.), Unterrichtsqualität. Konzepte und Bilanzen gelingenden Lehrens und Lernens (Grundlagen der Qualität von Schule, S. 57–89).
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Gast #19: Ulrich Steffens fasst die Hattiestudie zusammen
Ulrich Steffens, Tino Bargel (2016). Schulqualität – Bilanz und Perspektiven (Grundlagen der Qualität von Schule 1), ISBN 978-3-8309-3485-1
Ulrich Steffens, Katharina Maag Merki, Helmut Fend (2017). Schulgestaltung. Aktuelle Befunde und Perspektiven der Schulqualitäts- und Schulentwicklungsforschung (Grundlagen der Qualität von Schule 2), ISBN 978-3-8309-3617-6