Als pädagogischen Unfug bezeichnet Simone Fleischmann das bayerische Übertrittszeugnis. Kultusminister Ludwig Spaenle nennt das Verfahren “begabungsgerecht” und “verfassungskonform”.
Frau Fleischmann ist die Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen und Lehrerverbandes (BLLV). Sie äußerte sich vier Tage vor Aushändigung des Übertrittszeugnisses an die Viertklässler. Was bewegt Frau Fleischmann?
Die eine Seite
- Sie bezieht sich auf ihre Erfahrungen als Schulleiterin, „die das Leid der Kinder über Jahre hinweg selber hautnah miterleben musste. Aus meiner Zeit als Schulleiterin einer Grund- und Mittelschule weiß ich, wie sehr die Wochen und Monate vor dem Zeugnis vielen Kindern zu schaffen macht.“
- Sie müssten in der Zeit zwischen Weihnachten und April viele Prüfungen absolvieren. Manche Kinder würden richtig krank, bekämen Medikamente zur Leistungssteigerung verabreicht oder müssten miterleben, wie ihre aufgebrachten Eltern mit den Lehrkräften um Noten streiten.
- „Wir müssen endlich mit diesem pädagogischen Unfug aufhören.“ Er löse zu viel Stress aus. Er setze ganze Familien unter Druck. Er verderbe die Freude am Lernen und mache leider auch viele Kinder krank.
- „Wir dürfen nicht länger zulassen, dass drei Noten über Bildungsbiografien entscheiden – und leider auch der Geldbeutel der Eltern. Sie sorgen im Falle von Defiziten mit Nachhilfe für die guten Noten.“ Mit Bildungsgerechtigkeit habe das nichts zu tun.
- Auch die Art und Weise der Leistungserhebungen gebe Anlass zu Kritik: „Leistungen, die Kinder zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Tag abspulen müssen, werden bewertet, wobei Fehler geahndet und sanktioniert werden. Auf dieser Basis wird dann entschieden, ob ein Kind reif ist fürs Gymnasium. Das ist nicht nur vollkommen überholt und eben auch unpädagogisch, das steht auch in vollem Widerspruch zu allen Erkenntnissen der modernen Lernforschung. Heute wissen wir, dass Druck und Angst Lernprozesse verhindern statt befördern.“
Die andere Seite
Kultusminister Spaenle sieht das naturgemäß ganz anders. Seine Argumente:
- Das Übertrittszeugnis allein sei nicht maßgeblich für den weiteren schulischen Weg der Kinder. Vielmehr sei der Übertritt eine „Phase“, die in der dritten Klasse beginne. Sie beinhalte eine intensive Beratung der Eltern und eine Übertrittsempfehlung.
- Außerdem könnten Kinder, die die Voraussetzung zum Übertritt in der 4. Klasse nicht erfüllt haben, eine Probeunterricht an der Wunschschule belegen.
- Jährliche Umfragen des Ministeriums belegten eine hohe Zufriedenheit der Eltern mit der Weiterentwicklung des Übertrittsverfahrens.
Was stimmt?
Erfahrungen aus der Grundschule
Das, was Frau Fleischmann sagt, höre ich als stete Klage von allen Grundschulleiterinnen, mit denen ich zu tun habe. Dieselben Beobachtungen berichten Lehrerinnen der vierten und auch schon der dritten Klassen Grundschule. Es scheint also keine singuläre Wahrnehmung zu sein, sondern verbreitete Erfahrung. Das sollte man als Kultusminister ernst nehmen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass Herr Spaenle das tut.
Das Übertrittszeugnis
Herr Spaenle weist darauf hin, dass die Eltern schon ab der 3. Jgst. beraten werden (stimmt) und dass das Übertrittszeugnis allein nicht ausschlaggebend sei (stimmt zum Teil): Wenn der Schnitt der Noten in Deutsch, Mathe und HSU für das Gymnasium oder die Realschule ausreicht, dann ist das Zeugnis allein ausschlaggebend (genauer findet man das hier). Wenn der Schnitt nicht reicht, gibt es einen Probeunterricht, in welchem – das sagt die Statistik -, der Übertritt häufig doch noch geschafft wird.
Die hohe Erfolgsquote im Probeunterricht – sie lag für das Gymnasium 2013 bei 51,3 % und für die Realschule bei 20,5 % – steht natürlich in einem deutlichen Widerspruch zu einem vorher erteilten „nicht geeignet“ im Übertrittszeugnis. Das alles kann hier und in diesem Blogbeitrag nachgelesen werden. So gesehen, steht die Tauglichkeit des Übertrittszeugnisses schon sehr in Frage.
Die Zufriedenheit der Eltern
Die “hohe Zufriedenheit der Eltern” kann ich mir gut vorstellen, weil es einfach ist, die Frage so zu stellen, dass sie positiv beantwortet wird. “Sind Sie der Meinung, dass eine Beratung ab der 3. Jahrgangsstufe für Ihre Schulwegentscheidung hilfreich ist?” Leider kann ich auf der Website des Kultusministeriums keine Umfrage finden, die sich darauf bezieht.
Dafür kenne ich eine andere – und zwar wissenschaftlich fundierte – Umfrage, die besagt, dass in Bayern mehr noch als in Deutschland insgesamt, die befragten Eltern sich mit einer Mehrheit von 74% für ein längeres gemeinsames Lernen aussprechen, gegenüber 11%, die eine Aufteilung nach der 4. Klasse für richtig halten. Das habe ich hier genauer ausgeführt.
Die Verfassungsgemäßheit
Dr. Spaenle nennt das Übertrittsverfahren “verfassungskonform”. Dieser Ausdruck irritiert ein bisschen, weil Frau Fleischmann diesen Punkt gar nicht angesprochen hat. Der Kultusminister reagiert mit diesem Bezug auf ein Gutachten des Bochumer Professors für Verfassungsrecht Wolfram Cremer, über das und den ich in diesem Beitrag berichtet habe. Er – und mit ihm die Landtagsfraktion der SPD – stellt die Verfassungskonformität des bayerischen Übertrittsverfahrens in Frage.
Das tun auch einige Wissenschaftler aus pädagogischer Sicht (Hervorhebungen von mir).
Brisante Ergebnisse der PISA-Studie
Seit der PISA 2000-Studie (Programme for International Student Assessment), die für Deutschland schlechte Ergebnisse bei den Schulleistungen erbracht hatte, finden die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund stärkere Beachtung. Die alarmierende Aussage der ersten Studie im Jahr 2000 war, dass in Deutschland schulischer Erfolg so eng wie in keinem anderen der getesteten Länder an die soziale Herkunft geknüpft ist. Diese Ergebnisse haben aus verfassungsrechtlicher Sicht (Grundrecht auf Bildung), aber auch aus demographischer Sicht eine besondere Brisanz (vgl. Kersten 2007). (Baur und Häussermann 2009, S. 354)
Bayerischer Verfassungsauftrag eingelöst?
In der Verfassung des Freistaates Bayern lautet Art. 128 (1) „Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch darauf, eine seinen erkennbaren Fähigkeiten und seiner inneren Berufung entsprechende Ausbildung zu erhalten.“ Dort ist in Art. 132 (Aufbau des Schulwesens) geregelt: „für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlagen, seine Neigung, seine Leistung und sein innere Berufung maßgebend, nicht aber die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der Eltern.“ (Herrmann 2009)
Widerspruch zur Verfassung
Seit den ersten PISA-Veröffentlichungen im Jahre 2001 wissen wir einmal mehr,
dass die derzeitige Struktur der Schulformen und die damit verbundene Verteilung von Schülerströmen im dreigliederigen System nach der 4. Klasse unausweichlich zu viele falsche Prognosen und Zuordnungen zu Schullaufbahnen mit sich bringt. Damit verstößt dieses System nicht nur gegen den Grundsatz der Chancengerechtigkeit, den schon Condorcet 1792 als Rechtfertigung eines staatlichen öffentlichen Schulwesens ins Feld geführt hatte, sondern es wird aus seiner Systemlogik und -praxis heraus selber zur Quelle der Ungerechtigkeit, obwohl doch Verfassung und Gesetz genau dies verhindert wissen wollen. Streng genommen ist dieses Schulsystem nach Struktur und Praxis verfassungswidrig, denn es erzeugt in großem Stil Begünstigungen und Benachteiligungen mit lebenslangen Folgen. (Herrmann 2009)
Sortiermaschinerie verfassungsfraglich
Diese Sortiermaschinerie stellt auch juristisch-verfassungsrechtlich eine bedenkliche Praxis dar, weil sie mit den Rechten auf Bildung und Erziehung, auf schulische Ausbildung und berufliche Qualifizierung kollidiert, wie sie in Verfassungen, Gesetzen und ratifizierten UN-Konventionen fixiert sind. (Herrmann 2009)
Es wird also deutlich, dass Herr Spaenle jeden Grund hat, auf der Verfassungskonformität seines Übertrittsverfahrens zu bestehen: Sie steht juristisch und pädagogisch sehr in Frage. Gut möglich, dass immer deutlicher wird, dass das Übertrittszeugnis nicht nur pädagogischer, sondern auch juristischer Unfug ist.
Literaturverzeichnis Herrmann, U. (2009, Oktober). Das dreigliedrige Schulsystem darf keine Zukunft haben! Ein Plädoyer für die inklusive Schule und die differenzierte Sekundarschule. Sendereihe AULA. Herrmann, U. (2009, Juni). Förderung und Selektion: Der Zielkonflikt der Schulpolitik und seine gesamtgesellschaftlichen Folgen, München. Baur, C. & Häussermann, H. (2009). Ethnische Segregation in deutschen Schulen. Leviathan 37 (3), 353–366. doi:10.1007/s11578-009-0053-2 Weitere Quellen: http://www.br.de/nachrichten/bllv-uebertritt-grundschule-100.html https://www.bllv.de/BLLV-Ressort-Presse.6506.0.html?&cHash=80bea65d9cbd40f47e246e88136d4f83&tx_ttnews%5Btt_news%5D=8192
3 comments On Sichtweisen #4: “Pädagogischer Unfug”?
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