Von der gefährlichen Illusion der Homogenität
Gastbeitrag von Dr. Gerald Klenk
Wir unterscheiden Normale und Behinderte. Den Normalen tun die Behinderten irgendwie leid, aber sie können mit ihnen oft wenig anfangen. Viele Normale sind verunsichert, wenn ihnen die Behinderten zu nahe kommen. Von daher ist es für viel Normale beruhigend, wenn die Behinderten ihre eigenen Räume bekommen. Wie zum Beispiel in den Sonderschulen. Dr. Gerald Klenk blickt hinter die Kulissen.
Zur Person

Gerald Klenk ist ausgebildeter Grundschullehrer, wurde aber von Anfang an in der Hauptschule eingesetzt. Er promovierte über Umwelterziehung an bayerischen Schulen und gründete ein Schulentwicklungsnetzwerk. Später arbeitete er als Schulleiter an einer Grund- und Teilhauptschule, ehe er seine Beamtenkarriere als Schulamtsdirektor abschloss. In seinem kaum so zu nennenden Ruhestand gründete er die Lernwirkstatt Inklusion, er leitet das Bündnis Gemeinschaftsschule in Bayern und hat einen Lehrauftrag an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.
Dr. Klenk hat diesen Beitrag auch auf seiner eigenen Homepage veröffentlicht.
[Der Text argumentiert teilweise auf einer abstrakten Ebene und spricht nichtalltägliche Sachverhalte an. Zu seinem Verständnis habe ich mir die folgende Übersicht erstellt, sie kann vielleicht als advance organizer dienen. Klick auf die Grafik vergrößert diese.]

Suche nach Ordnung in der Vielfalt der Welt
Wo ich zuhause bin, fühle ich mich sicher und geborgen. Für jeden Menschen kann dieses „Zuhause“ anders aussehen; es muss auch nicht unbedingt ein geografischer Ort sein, auch Gefühle, ausgelöst durch Begegnungen, durch Musik u.a.m. können Menschen ein Zuhause vermitteln. Wo man „unter Seinesgleichen“ ist, fühlt man sich meist wohl: überwiegend gleiche Ansichten, gleiche Gewohnheiten, gleicher Lebensstil, wenn „alles in Ordnung“ ist, fühlt sich das Leben gut an.
Das Streben des Menschen nach Ordnung ist eine natürliche Reaktion auf die unendliche Vielfältigkeit unserer Welt, in der wir nur existieren können, wenn wir uns mit der Interpretation von Realität eine Wirklichkeit konstruieren. Leben vollzieht sich von Anfang bis Ende in der Ambivalenz von Chaos und Ordnung. An beiden Enden dieses Spektrums wird das Leben schwierig: herrscht zu wenig Ordnung, reicht die Resilienz nicht aus, um gut leben zu können. Nimmt die Ordnung überhand, engen Strukturen ein und werden zu Zwang.
Homogenisierung der Gesellschaft
Es sei ein Traum der Moderne, „der Traum einer einheitlichen, harmonischen Ordnung der Gesellschaft und die gleichermaßen moderne Überzeugung, dass die Auferlegung einer solchen Ordnung auf die widerstrebende Realität ein fortschrittlicher Zug sei, eine Förderung der allgemeinen Interessen…“ (Bauman 2017, S. 56). Und weiter:
„Alle Visionen einer künstlichen Ordnung sind notwendig … inhärent asymmetrisch und führen auf diese Weise zu einer Dichotomie. Sie spalten die menschliche Welt in eine Gruppe, für die die ideale Ordnung errichtet werden soll, und eine andere, die in dem Bild und der Strategie nur als ein zu überwindender Widerstand vorkommt – als das Unpassende, das Unkontrollierbare, das Widersinnige und das Ambivalente. Dieses Andere, das aus der ‚Schaffung von Ordnung und Harmonie‘ hervorgegangen ist, das Überbleibsel des klassifikatorischen Bestrebens, wird aus jenem Universum der Verpflichtung herausgeworfen, das die Mitglieder der Gruppe bindet und ihr Recht anerkennt, als Träger moralischer Rechte behandelt zu werden“
(Bauman 2017, S. 69)
Überbordende Ordnung schlägt sich in homogenisierten Systemen nieder, die sich gegenüber anderen deutlich abgrenzen und andere ausgrenzen, die letztlich Gesellschaft zersplittern und die Einzigartigkeit des Menschen aufheben. Dass Menschen sich in den Sog homogenisierter Systeme hineinziehen lassen, liegt schlussendlich an dem Bedürfnis dazuzugehören und Anerkennung zu finden. Aber auch hier stellt sich die Frage nach dem Kipppunkt: Wann wird aus Anerkennung Unterwerfung?
Um dieser Frage nachzugehen, erscheint es wichtig, den Begriff der Anerkennung dekategorisierend zu betrachten.
Anerkennung als multivalente Dimension
Der Mensch ist auf Anerkennung angewiesen[1]. Jede und jeder möchte dazugehören; nicht von ungefähr ist in der Präambel der UN-Behindertenrechtskonvention vom „sense of belonging“ die Rede[2] als entscheidendem Kriterium für die vollendete Realisierung von Teilhabe und Inklusion. Das Individuum soll nicht nur respektiert werden, sondern in seiner Gesamtheit, die in der Menschenwürde verankert ist, wahrgenommen und einbezogen werden.
Hier zeigt sich die Problematik der Anerkennungsthese im sozialstaatlichen Kontext. Am Beispiel der Menschen mit Behinderungen wird deutlich, dass „Anerkennung“ noch nicht automatisch Inklusion bedeutet; die Gruppe der Menschen mit Behinderung erfährt Anerkennung dadurch, dass Staat und Zivilgesellschaft „Schonräume“ errichten, die sich der zentralen Funktionslogik einer auf Leistung und Konkurrenz gegründeten Gesellschaft entziehen. Letztendlich verschwindet das Individuum in der Gruppe und findet seine Anerkennung über die Identifikation mit den Praktiken und Werten eben dieser Gruppe.
„Diesem ‚Unsichtbar‐machen‘ einerseits und dem Einklagen der Notwendigkeit von Sonderpädagogik andererseits ist gemeinsam die Verwechslung von Sonderpädagogik mit besonderen Kompetenzen in einem allgemeinpädagogischen Zusammenhang. Sie verweist auf einen Mangel dieser Positionen in und gegenüber der Inklusion an einer grundlegenden allgemeinen Theorie.“
(Rödler 2017,78)
Die neoliberale Gesellschaft sieht darin bereits die Erfüllung des Menschenrechts auf Teilhabe.
Das Individuum erfährt eine sekundäre Anerkennung (vermittelt über die Gruppenzugehörigkeit), nicht jedoch in Bezug auf die eigene Persönlichkeit. Unbestritten kann in der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe die Erfahrung des Anerkanntseins gemacht werden[3], vorausgesetzt das Individuum fühlt und verhält sich loyal und treu zur Gruppe, denn die Gruppe verlangt Konformität und verleiht so auch Identität. Die Konstanz der Gruppe wird systemisch abgesichert, indem eine klare Abgrenzung gegenüber „anderen“ vorgenommen und ein Innen und Außen konstruiert wird. Dies kann u.U. bis hin zu gewaltbetonten Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden reichen.
Ausstieg aus der Anerkennung?
Das Verlassen der Gruppe wäre somit zwangsläufig mit Anerkennungs- und Kontrollverlusten verbunden. Wer trotzdem die sichere Anerkennungsstruktur und -kultur aus zweiter Hand verlässt, hat in der Regel den sozialen Aufstieg im Visier. Das Risiko, den Rückhalt in der gewohnten Gruppe zu verlieren, wird durch das meritokratische Versprechen, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen, kompensiert. Der Ausstieg aus der (zumindest in der neokapitalistischen Denkweise) gering geschätzten Gruppe und der Versuch des Aufstiegs werden nun wieder als Leistung anerkannt. Allerdings entsteht auf diesem Wege auch die Gefahr des Scheiterns. Gelingt der Aufstieg, gehört man wieder dazu; scheitert er, dann gehört man zu den (bestenfalls bedauernswerten) Verlierern (vgl. Wellgraf 2021).
Das neoliberale Verständnis von Leistung beruht auf „individualisierten Verantwortungszuschreibungen“, die „den Blick von den in den Institutionen eingeschriebenen Diskriminierungen eher ablenken“ (Wellgraf 2021, S. 14). Fleiß und Begabung sind hier erhellende Stichworte: diejenigen, die aufgrund von Talent und/oder Begabung den Aufstieg schaffen, genießen eine höheres Ansehen als jene, die sich den Aufstieg mit „Fleiß“ und Anstrengung erarbeiten (siehe dazu Bericht in der SZ vom 19.07.2023). Studierende etwa aus Nicht-Akademiker-Familien haben eher ein Selbstbild, das weniger überzeugt von der eigenen Begabung/ dem eigenen Talent ist als von der Annahme, dass man eben fleißig war; man hat sich also den Aufstieg „verdient“, während er anderen in den Schoß gefallen ist.
Es wird deutlich, dass der neoliberale Leistungsbegriff in Widerspruch zu den Sicherheiten einer Gruppenzugehörigkeit steht. Dies kann eine Zerrissenheit zwischen „Dazugehören“ und „Aufstieg“ auslösen; die Entscheidung wird dem Individuum anheimgestellt.
Der Mythos vom passgenauen Schulsystem
Das segregative Schulwesen z.B. in Bayern sorgt nach Auffassung des Kultusministeriums und einiger Lehrerverbände gerade aufgrund seine starken Differenziertheit für „Bildungsgerechtigkeit“; dabei beruft man sich auf eine Studie von Esser/Seuring zu den Effekten kognitiver Homogenisierung[4], die bereits vielfach wissenschaftlich kritisiert wurde.
Aus dem Blickwinkel sozialer Gerechtigkeit in Verbindung mit Bildungsgerechtigkeit ist eine „kognitive Homogenisierung“ brandgefährlich. Sie festigt und verstärkt soziale Unterschiede und vernachlässigt die Anerkennung individueller Leistung. Die sog. kognitiv homogenen Schularten stellen ihrerseits Gruppierungen dar, in denen sekundäre Anerkennungsstrukturen vorherrschen und dies obendrein in einem Zwangssystem: allein die Jahrgangsklasse stellt bereits einen untauglichen Versuch dar, kognitive Homogenität zu erzeugen.
Die zusätzliche Schubladisierung nach Leistung[5] bildet eine weitere Form der Verantwortungszuschreibung an die Schüler:innen: Leistungsanforderungen[6] im Lernprozess können nur durch Anstrengung oder „Talent“ erfüllt werden und sind zudem durch externe Bewertung fremdgesteuert. Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass die mit der Homogenitätsillusion verbundene Segregation im hoch differenzierten Schulwesen eine sehr stark eingeschränkte einseitige „Passgenauigkeit“ erzeugt und maßgeblich daran beteiligt ist, dass ein ausgeprägter Klassismus mit weiterhin nur schwer überwindbaren Aus- und Abgrenzungsmechanismen die sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft festigt und letztlich bestehende Machtstrukturen stützt.
Bildung zwischen Affirmation und Transformation
Die so beschriebene gruppenbezogene sekundäre Form der Anerkennung, die mit Ausgrenzung des Differenten verbunden ist, kann sicher nicht als pädagogische Prämisse für ein inklusives Schulwesen herangezogen werden. An dieser Stelle zeigt sich, dass das neoliberale Fundament unserer auf Konkurrenz und Marktliberalität ausgerichteten Gesellschaft für eine inklusive, gerechte und solidarische Bildung kontraproduktiv ist. Das Gegenteil ist der Fall: das finanzkapitalistische System mit seinen konkurrenzbasierten Denk- und Funktionsweisen ist geradezu auf ein Bildungssystem angewiesen, das die sozialen Unterschiede deutlich markiert und zementiert.
Die vorgeschobene Anerkennung durch angeblich passgenaue Segregationsformen (= Schularten), die als Schonräume oder Orte spezifischer Förderung deklariert werden, sind aber letztlich gesellschafts- und demokratieschädigend[7]. Gleichwohl wird an diesen separierenden Strukturen festgehalten, weil Veränderungen die Sicherheitsangebote der zugewiesenen oder gewählten Gruppe in Frage stellen und man gleichzeitig immer die stille Hoffnung auf Erfüllung des meritokratischen Versprechens des „Aufstiegs“ hegt („Mein Kind soll es einmal besser haben als wir!“). „Der Schutzraum der Homogenität und Konformität wird von Teilen der Bevölkerung aggressiv gegen eine als Bedrohung wahrgenommene Veränderung verteidigt[8]“.
Im Kontext dieser Argumentationsweise wird das Förderschulwesen von der bayerischen Staatsregierung als „inklusiv“ apostrophiert, obwohl es den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention diametral zuwiderläuft.
Anerkennung ist nicht gleich Anerkennung.
Die Formen der sekundären Anerkennung, die nichts an der Beseitigung der diskriminierenden Systembedingungen ändern möchten, bewirken das Gegenteil von Anerkennung. Dies gilt in ganz besonderem Maße für das Bildungssystem. Nun wird auf vielen Gebieten um „Anerkennung gekämpft“. Lothar Wigger[9] hat in seinem Aufsatz mit Recht auf die unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Forderungen nach Anerkennung hingewiesen.
Schule zwischen Anerkennung und Scheitern
Das staatliche Schulwesen handelt nach der affirmativen Anerkennungsstrategie (vgl. Fraser 2016). Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die der Gruppe zugeschriebenen Besonderheiten und die Differenz der Menschen mit Behinderung (labeling-approach). Die Gruppendifferenzierung wird dadurch unterstützt, ja sogar z.T. erzeugt und somit zur Bedingung für die Zuweisung sonderpädagogischer Ressourcen. Daraus erwächst ein grundsätzliches Dilemma, da einerseits die (gesellschaftliche, schulische) Wahrnehmung der Menschen mit Behinderung insgesamt gestärkt wird, andererseits jedoch aufgrund mangelnder Umverteilung i.S.v. Art. 2 UN-BRK (angemessene Vorkehrungen) die individuellen Bedürfnisse der Menschen keine Berücksichtigung finden: der einzelne Mensch verschwindet in der Gruppe, über die er/sie nur indirekt Anerkennung erfährt.
Das Förderschulwesen zeigt sich somit als institutionelle Verankerung gruppenbezogener Anerkennung bei gleichzeitiger Beibehaltung des neoliberalen meritokratischen Leistungsgedankens und den damit schulartspezifisch zersplitterten Anforderungen und Erwartungen.
Das Ringen um Anerkennung im bestehenden Schulsystem ist für die Beteiligten[10] immer wieder mit Scheitern verbunden, Scheitern, weil die Schule versagt, weil sie den Lernenden den Erfolg versagt. Wie viele Eltern berichten verzweifelt über die Misserfolge ihrer Kinder, denen die Anerkennung versagt bleibt, die sie für den Schritt ihrer jeweils nächsten Entwicklung nötig hätten. Lernende scheitern an den Vorgaben und Strukturen. Jeder junge Mensch hat zwar nach den Buchstaben des Gesetzes ohne Rücksicht auf seine Herkunft, seine Religion, seine geschlechtliche Orientierung, seine Behinderung oder seine soziale oder wirtschaftliche Herkunft das Recht auf inklusive Bildung, aber de facto ist dieses Recht durch juristisch eingeschobene Vorbehaltsklauseln eingeschränkt:
- Inklusiver Unterricht Aufgabe aller Schulen (Art. 2 Abs. 2 BayEUG)
- Die inklusive Schule ein Ziel der Schulentwicklung aller Schulen (Art. 30b Abs. 1 BayEUG).
- Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf können gemeinsam in Schulen aller Schularten unterrichtet werden (Art. 30a, Abs. 3 BayEUG).
- Ein sonderpädagogischer Förderbedarf begründet nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schulart. Schulartspezifische Regelungen für die Aufnahme, das Vorrücken, den Schulwechsel und die Durchführung von Prüfungen an weiterführenden Schulen bleiben unberührt (Art. 30a, Abs. 5 BayEUG).
- Die Erziehungsberechtigten entscheiden, ob ihr Kind an einer allgemeinen Schule – oder an einer Förderschule unterrichtet wird (Art. 41 Abs. 1 BayEUG)
Auszüge aus dem Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz[11]
Auf diese Weise ist das System Schule gegen transformative Veränderungen der Anerkennungsstrukturen abgesichert, indem es grundsätzlich Gruppengrenzen als offen beschreibt, aber enorm hohe Hürden zu deren Überwindung festlegt. Die Quoten der Schüler:innen, die sitzen bleiben oder gar abgeschult werden, zeigen, dass die Durchlässigkeit der Systemgrenzen eher nach unten gegeben ist.
Anerkennung unter Druck?
Anerkennungskonflikte entstehen besonders dadurch, dass durch die Aufwertung benachteiligter Gruppen als Gruppen ein symbolischer Anerkennungsakt stattfindet, der jedoch nicht mit einer Transformation der zugrundeliegenden ungerechten Strukturen verbunden ist. So muss die Darstellung der Politik betrachtet werden, die – wie hier beispielsweise Peter Beuth von der CDU Hessen – argumentiert:
„Aus den Formulierungen der UN-BRK lässt sich kein individueller Anspruch auf eine Teilnahme am Regelunterricht der allgemeinbildenden Schulen ableiten. Die Konvention nimmt die Unterzeichnerstaaten vielmehr in die Pflicht, den betroffenen Schülerinnen und Schülern durch den Zugang zu Bildungseinrichtungen eine über die Schulzeit hinausreichende Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen. Auch Förderschulen sind dabei integraler Bestandteil eine ‚inklusiven Bildungssystems‘, das Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen eine grundsätzliche Teilhabe an Bildung ermöglicht.“[12]
Ähnlich argumentiert auch die bayerische Staatsekretärin Anna Stolz in ihrer Antwort auf eine Petition, die das Forum Bildungspolitik in Bayern eingereicht hat:
„Für die Umsetzung in Landesrecht gibt die UN-BRK unbeschadet ihres Anliegens einer gemeinsamen Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung bzw. – in schulrechtlicher Begrifflichkeit – sonderpädagogischem Förderbedarf kein bestimmtes Modell vor.“[13]
Nach dieser Argumentation reicht es also völlig aus, „homogene“ Strukturen zu etablieren, in denen benachteiligte Schüler:innen als Gruppen berücksichtigt werden: Förderzentren für Sehen, Hören, Lernen etc. Sie halbieren den Gerechtigkeitsgedanken („Die halbierte Gerechtigkeit“ Fraser 2016), indem sie eine Veränderung dieser Strukturen im Sinne von gemeinsamem Lernen, gemeinsamer Bildungsteilhabe ohne Separation verhindern.
Homogene Strukturen entstehen ausschließlich unter Druck; ein gedanklicher Ausflug in die Naturwissenschaften kann dies metaphorisch erhellen:
Das Homogenisieren ist ein Verfahren, bei dem Lebensmittel, vor allem Milch, in eine homogene Mischung gebracht werden. Homogen heißt, dass die Komponenten gleichmäßig zerkleinert und vermischt werden.
(Quelle: Website von REWE)
Anerkennungskonflikte ergeben sich insbesondere aus der Differenz von Fremd- und Selbsteinschätzung und sind im bestehenden meritokratischen System gewünscht: Anstrengung und Bemühen um Erfolg von allen Kindern werden von „der Schule“, aber auch von Eltern und der Gesellschaft erwartet, können aber unter dem Konkurrenzdruck nicht hinreichend erbracht werden (vgl. Wigger a.a.O.). Das wichtigste Mittel zur Erzeugung des Konkurrenzdrucks sind die Formen der Leistungsmessung und des Leistungsvergleichs, die mit Ziffernnoten belegt werden. Die soziale Vergleichsnorm dominiert die auf 6 Kategorien reduzierte Leistungsbewertung in allen Schulformen. Ein sinnstiftendes Lernen wird damit konsequent unterlaufen[14]. Und all dies geschieht unter dem Vorwand eine homogenen Voranschreitens und der Ermöglichung einer homogenen Lerngruppe.
Michel Foucault beschreibt Homogenisierung wie folgt:
Allmählich … ‚verflacht‘ sich der Schulraum: die Klasse wird homogen und besteht nur mehr aus individuellen Elementen, die sich nebeneinander unter dem Blick des Lehrers ordnen. Der ‚Rang‘ beginnt im 18. Jahrhundert die große Verteilung der Individuen in der Schulordnung zu definieren: Schülerreihen in der Klasse, Korridore, Kurse; jeder erhält bei jeder Aufgabe und bei jeder Prüfung einen Rang zugewiesen – von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr; Gleichschaltung der verschiedenen Altersklassen; Abfolge des Lehrstoffs und der behandelten Fragen in der Ordnung zunehmender Schwierigkeit, Und in diesem System obligatorischer Gleichschaltungen erhält jeder Schüler nach seinem Alter, seiner Leistungen, seinem Benehmen bald diesen Rang und bald einen anderen; er verschiebt sich ständig auf jenen Reihen, von denen die einen rein ideal eine Hierarchie des Wissens und der Fähigkeiten markieren, während die anderen die Verteilung der Werte und der Verdienste materiell in den Raum der Klasse oder des Kollegs übersetzen. In dieser ständigen Bewegung ersetzen sich die Individuen. In diesem Raum skandieren sich gleichgeschaltete Intervalle.“
(Foucault 2019, S. 188)
Anerkennung braucht Transformation
Menschen mit Behinderung gehören ebenso wie andere Gruppen, die in unserer Gesellschaft strukturelle Diskriminierung erfahren, unzweifelhaft zu den kulturell wir ökonomisch benachteiligten Gruppen unserer Gesellschaft; dies zeigt sich insbesondere im Schulsystem, in dem nach dem meritokratischen Prinzip die rechtliche Anerkennung behinderter Menschen als Gruppe entscheidend ist und bereits als „Inklusion“ gewertet wird. Dieses Verständnis ist weder hinreichend noch umfassend. Anerkennung, die dem Menschen Selbstachtung, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl vermittelt, beruht auf einer wechselseitigen Beziehung und kann nur in einer menschlichen Beziehung realisiert und erfahren werden.
Honneth spricht von drei Anerkennungsmodi: Liebe, Recht (rechtlicher Respekt) und Solidarität (Wertschätzung) (Honneth 2021, 148 ff; 309). Diese drei Modi korrespondieren mit der Trias Partizipation, Selbstbestimmung und Autonomie (vgl. Schönwiese, Volker / Plangger, Sascha 2013 [online S. 3]). Vielfältige Formen überlagern und ergänzen sich und sind nur ganzheitlich zu begreifen.
Anerkennungsmodi | Attribuierung Eigenschaften | Reaktion Potentiale |
Liebe | Singularität des Partners | Wertschätzung |
Recht | Autonomie des Anderen | Rechtlicher Respekt |
Solidarität | Teilhabe | Affirmierung |
Damit individuelle Leistung auch in Reflexion auf Gemeinschaft ohne soziale Vergleiche anerkannt werden kann, bedarf es eines transformativen Konzepts, wie es beispielsweise Volker Schönwiese und Sascha Plangger vorgeschlagen haben (Dederich 2013) Hierbei geht es um zwei Strategien: zum einen um „affirmative Maßnahmen gegen Ungerechtigkeit … die darauf abstellen, ungerechte Folgewirkungen gesellschaftlicher Verhältnisse auszugleichen, ohne den zugrundeliegenden Rahmen anzutasten, der diese Verhältnisse hervorbringt“ (Fraser 2016, 47). Zum anderen geht es um transformative Maßnahmen, die gerade auf die Veränderung dieses Rahmens abzielen (ebd.)

Das Bildungssystem kann sich also nicht darauf zurückziehen, dass mittels der verschiedenen Schularten von der Förderschule bis zum Gymnasium die Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen (Gruppendifferenzen) in angeblich homogenen Zusammensetzungen Anerkennung finden, weil auf diese Weise allein die Bildungsungerechtigkeit nicht ausgeglichen, sondern im Gegenteil noch verstärkt wird. Damit beschränkt sich das Schulsystem auf reine Affirmation, ohne dass die grundlegenden Ungerechtigkeitsbedingungen geändert werden. Es müssen Maßnahmen hinzukommen, die die Individualität jedes Einzelnen anerkennen, seine Autonomie respektieren und die vollumfängliche Teilhabe ermöglichen (Partizipation nach Kardoff 2014).
Ein gerechtes, inklusives Schulsystem hat deshalb sowohl die Unterschiedlichkeit der Menschen als anthropologische Grundtatsache zu respektieren und im Sinne der Vielfältigkeit der damit eröffneten Potenziale in größtmöglicher Breite und Vernetzung zu erschließen. Gleichzeitig hat es die Aufgabe, den einzelnen Menschen im Blick zu haben, ihn in seinen Eigenschaften anzuerkennen und auf dieser Basis seine individuellen Entwicklungsmöglichkeiten zu unterstützen. Dies lässt erkennen, dass sog. kognitive Homogenität vollkommen konträr zu den unterstellten Absichten verläuft. Eine Schule, die als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft dienen soll, muss sowohl Gruppendifferenzen, Gruppenidentitäten als auch individuelle Eigenschaften und Möglichkeiten berücksichtigen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn Leistung nicht utilitaristisch im Sinne neoliberaler kapitalistischer Verwertbarkeit, sondern als eine basale Lebensäußerung des Menschen verstanden wird. Konkurrenz und Wettbewerb in einem aus- und abgrenzenden Verständnis haben in dieser Schule keinen Platz.
Schule ist der Ort, an dem sich Zukunft entwickelt.
Literaturverzeichnis
Bauman, Zygmunt (2017): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. 4. Auflage. Hamburg: Hamburger Edition.
Dederich, Markus (Hg.) (2013): Behinderung und Gerechtigkeit. Heilpädagogik als Kulturpolitik. Orig.-Ausg. Gießen: Psychosozial-Verl. (Therapie & Beratung). Online verfügbar unter http://www.socialnet.de/rezensionen/isbn.php?isbn=978-3-8379-2305-6.
Foucault, Michel (2019): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 17. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch, 2271).
Fraser, Nancy (2016): Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Gender studies – vom Unterschied der Geschlechter, 1743).
Honneth, Axel (2021): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 11. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1129).
Rödler, Peter (2017): Inkludiert und enteignet. Verschwinden im Sprachraum. In: Erich Otto Graf, Wolfgang Jantzen, Willehad Lanwer, Erwin Reichmann-Rohr, Peter Rödler und Anne-Dore Stein: Inklusion – ein leeres Versprechen? Zum Verkommen eines Gesellschaftsprojekts. Originalausgabe. Hg. v. Georg Feuser. Gießen: Psychosozial-Verlag (Forum Psychosozial), S. 77–97.
Schönwiese, Volker / Plangger, Sascha (2013): Bildungsgerechtigkeit zwischen Umverteilung, Anerkennung und Inklusion. In: Markus Dederich (Hg.): Behinderung und Gerechtigkeit. Heilpädagogik als Kulturpolitik. Orig.-Ausg. Gießen: Psychosozial-Verl. (Therapie & Beratung), S. 55–76. Online verfügbar unter http://bidok.uibk.ac.at/library/schoenwiese-bildungsgerechtigkeit.html.
Schumann, Brigitte (2007): “Ich schäme mich ja so!”. Die Sonderschule für Lernbehinderte als “Schonraumfalle”. Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Diss., 2006. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (Klinkhardt-Forschung). Online verfügbar unter http://www.socialnet.de/rezensionen/isbn.php?isbn=978-3-7815-1514-7.
Wellgraf, Stefan (2021): Ausgrenzungsapparat Schule. Wie unser Bildungssystem soziale Spaltungen verschärft. Bielefeld: transcript (X-Texte zu Kultur und Gesellschaft). Online verfügbar unter http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5307-6.
Anmerkungen
[1] Der Begriff der Anerkennung ist untrennbar verknüpft mit dem der Gerechtigkeit und führt unmittelbar in das Dilemma von Umverteilung und Anerkennung (Fraser 2016, 31ff.). Nach Axel Honneth ist Anerkennung der grundlegende Gerechtigkeitsbegriff, der die Umverteilung umfasst (Honneth 2021.)
[2] Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen; Präambel (m)
[3] Dies zeigt sich aktuell beispielsweise in den Chatgruppen der sog. sozialen Medien, aus denen sehr viele Menschen die Bestätigung ihrer Ansichten beziehen und sich somit wahrgenommen und anerkannt fühlen.
[4] Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit; Esser, Hartmut; Seuring, Julian; in: Zeitschrift für Soziologie: ZfS. 49 (2020), 5-6, S. 277-301 | DOI: 10.1515/zfsoz-2020-0025
[5] Hier stellt sich weiterhin die Frage, wie Leistung erhoben und gemessen wird und welche Rolle die Ziffernnoten spielen.
[6] Leistungsanforderungen werden extern an die Lernenden gestellt. Sie manifestieren sich in den Lehrplänen, die – nach Auffassung der Befürworter:innen des gegliederten Schulwesens – für „Chancengleichheit“ sorgen, indem sie gleiche Anforderungen an alle Schüler:innen stellen. Die führt jedoch selbst in den angeblich kognitiv homogenen Schulstrukturen zu breiten Streuungen in den Ergebnissen und so letztlich auch hier zu Bildungverlierer:innen.
[7] Darauf hat Brigitte Schulmann bereits 2007 hingewiesen, indem sie das Sonderschulwesen als „Schonraumfalle“ bezeichnet hat (Schumann 2007.
[8] Wilhelm Heitmeyer – Süddeutsche Zeitung vom 10.07.2023 http://sz.de/1.6012038
[9] Lothar Wigger: Institutionelle Zwecke, Anerkennungskonflikte und Bildung; in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Heft 4/2010 S. 542 – 557
[10] Beteiligte sind nicht allein die Schüler:innen, die zwar unzweifelhaft zu den am stärksten Betroffenen gehören; auch die Lehrer:innen leben und arbeiten in einem Anerkennungssystem mit den gleichen Bedingungen, und selbst Eltern sind in die Wirren des „Kampfes um Anerkennung (= gute Noten)“ involviert.
[11] siehe dazu auch die Zusammenstellung in dem Aufsatz von Hans Wocken: Inklusive Bildung! In Bayern? – kostenlos abzurufen unter http://www.hans-wocken.de/Artikel.htm
[12] Schreiben von Peter Beuth, Mitglied des Hessischen Landtags, an Prof. Dr. Anne-Dore Stein vom 26.08 2013, veröffentlicht unter https://politik-gegen-aussonderung.net/schwarzbuch-inklusion/ (abgerufen am 16.07.2023 | 14:00)
[13] Schreiben vom 28.07.2022 – Aktenzeichen Bl.0509.18
[14] siehe dazu auch die interessanten Newsletter von Philippe Wampfler unter dem Titel „Beurteilung & Unterricht“