“Aber wir haben doch gehört, in Baden-Württemberg läuft es mit der Gemeinschaftsschule auch nicht so gut!”
Diese Aussage habe ich jetzt schon öfters vernommen, wenn Eltern oder Gemeinderäte hier in Bayern über die Gemeinschaftsschule informiert werden. Da ist jede Menge Halb- oder Viertelwissen im Umlauf, manche Diskutanten kennen einen Lehrer in Baden-Württemberg, der meint, dass… usw.
Höchste Zeit, mal eine wissenschaftliche Aussage zu Gehör zu bringen!
Forschungsprojekt Wissenschaftliche Begleitforschung Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg (WissGem)
Gehen wir mal davon aus, dass wir durch eine wissenschaftliche Begleitforschung genauere und zuverlässigere Erkenntnisse gewinnen, als wenn wir nur auf das hören, was ein zufälliger Bekannter uns sagt oder eine Zeitung schreibt.
Wer ist denn in diesem Fall “die Wissenschaft”?
Die folgenden wissenschaftlichen Einrichtungen beteiligen sich an der Forschung:
Das sind insgesamt 31 Wissenschaftler/innen – eine ansehnliche und gut verteilte Science-Power, wie ich finde.
Und wer oder was wurde untersucht?
Teilprojekt 1: Jeweils zwei Lerngruppen von zehn Gemeinschaftsschulen wurden über die Zeitdauer von eineinhalb Jahren im Unterrichts- und Schulalltag begleitet. Insgesamt wurden 349 Unterrichtsbeobachtungen zu fünf Beobachtungszeitpunkten durchgeführt und ergänzend mehr als 100 Interviews geführt.
Teilprojekt 2: Schulartenvergleich. Hier erfolgte eine schriftliche Befragung aller 78 Gemeinschaftsschulen der ersten Tranche im Vergleich mit einer Kontrollgruppe von 75 Nicht-Gemeinschaftsschulen.
Teilprojekt 3: externe Perspektive auf die Einzelschule = Sozialraum und die Schule als Lebensraum.
Teilprojekt 4: diagnostische Praxis von Lehrkräften an Gemeinschaftsschulen im Bereich der Schreibkompetenz.
Was wurde dabei herausgefunden?
Die Schüler sind etwas motivierter
Für die Makroebene, als der Ebene, die das Schulsystem im Gesamten betrachtet, wurde bei der vergleichenden Analyse von Mittelwerten zunächst deutlich, dass sich Schülerinnen und Schüler an Gemeinschaftsschulen und Nicht-Gemeinschaftsschulen in Bezug auf die intrinsische Motivation unterscheiden: Hier ließ sich ein kleiner gruppenspezifischer Effekt zugunsten der Gemeinschaftsschule identifizieren. (S. 71)
Die Gemeinschaftsschulen sind nicht alle gleich gut
So wird deutlich, dass identische Oberflächenstrukturen aufgrund unterschiedlicher Qualität des Lehrerhandelns zu einer differenten Unterrichtsqualität führen. Dies ist einer der zentralen Befunde von WissGem, da vielfach vereinheitlichend über die Qualität der Gemeinschaftsschulen diskutiert wird. Der Befunde zeigt jedoch, wie unterschiedlich sich die Qualität, auch innerhalb einer Gemeinschaftsschule bzw. zwischen den Lehrkräften einer Lerngruppe gestaltet. (S. 71)
Mehr Plenums- und Einzelarbeit als kooperative Arbeitsformen
Unabhängig von den ausgewiesenen Leistungsniveaus an den Schulen ist in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch sowohl Plenumsarbeit (in den sogenannten Inputstunden) als auch Einzelarbeit (in individualisierten Lernformen) aufzufinden. Beide Formen zeigen sich als dominierende Arbeitsform in den beobachteten Fächern (vorwiegend Deutsch und Mathematik), kooperative Arbeitsformen dagegen, die auch in den gesetzlichen Verlautbarungen zur Gemeinschaftsschule benannt werden, scheinen demgegenüber in den untersuchten Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch konzeptionell nur marginal verankert worden zu sein. (S. 71–72)
Gute Schüler profitieren von individuellem Lernen, schwächere brauchen Input
Bei Lernenden des hohen und des unteren Leistungsniveaus konnten signifikante Zusammenhänge zwischen der Form des Unterrichts und der aktiven Lernzeit nachgewiesen werden. Lernende mit hohem Leistungsniveau zeigten hier die höchste aktive Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand in fachunbezogenen individuellen Lernzeitstunden, Lernende des unteren Leistungsniveaus hingegen in Inputstunden. (S. 72)
In Mathematik arbeiten die Gemeinschaftsschulen ähnlich wie andere Schularten
In Mathematik wurde hier ersichtlich, dass vorwiegend geschlossene technische Aufgaben eingesetzt werden, die eine kleinschrittige Bearbeitung durch die Schülerinnen und Schüler erfordern (Kap. 6). Diese Befunde stellen allerdings kein Charakteristikum der Gemeinschaftsschule dar, sondern können gemäß des Forschungsstandes bei allen Schularten aufgefunden werden. (S. 72)
An Gemeinschaftsschulen gibt es besondere Herausforderungen für Lehrkräfte
Die große Bedeutung der Lehrkräfte tritt aus zahlreichen Studien dieses Projekts hervor. Sie erstreckt sich sowohl auf die konzeptionelle Arbeit der Mesoebene, die eine verstärkte Kooperation erfordert, als auch auf die Mikroebene, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit Heterogenität und Inklusion (Kap. 3). Lehrkräfte stehen an Gemeinschaftsschulen einer komplexeren Anforderungsstruktur gegenüber, die durch die verstärkte Bedeutung konzeptioneller Arbeit und die tendenziell stärkere Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen der heterogener gewordenen Schülerschaft bedingt ist. (S. 72–73)
Was Lehrkräfte an GMS auszeichnet und was sie brauchen
Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen zeichnen sich im Vergleich zu entsprechenden Lehrkräften an Nicht-Gemeinschaftsschulen durch höhere Innovationsbereitschaft und positivere Einstellungen gegenüber leistungsbezogener Heterogenität aus (Teilprojekt 2). Gleichwohl stehen nicht wenige Gemeinschaftsschul-Lehrkräfte ihrer Schulart reserviert gegenüber, und der Großteil wünscht sich bessere Umsetzungsbedingungen, z.B. mehr zeitliche und personelle Ressourcen sowie Planungssicherheit. (S. 73)
An GMS enteht eine beeindruckende Innovationsdynamik
Vielfach werden von den Gemeinschaftsschulen entwickelte Ansätze und Konzepte ersichtlich, die zwischen den Schulen in einem nicht erwartbaren Ausmaß variierten und in ihrer Innovationsdynamik die Forscherinnen und Forscher zu beeindrucken vermochten. (S. 73)
Positive Erscheinungen an GMS: Konzeptarbeit, Kooperation, Innovation, Individualisierung, Diagnose und Leistungsbeurteilung
Auf der Schulebene traten insbesondere eine akzentuiertere konzeptionelle Arbeit und eine damit einhergehende verstärkte Lehrerkooperation aus den Daten hervor, offensichtlich verstärkt durch eine vergleichsweise innovative Haltung und eine positive Einstellung zum Umgang mit Heterogenität. Auf der Unterrichtsebene manifestierten sich anspruchsvolle Individualisierungskonzepte (häufig auch in Formen wie bspw. Parallelstundenplänen, die den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit der Fachwahl in individualisierten Lernzeiten einräumen), in Teilen intensivere Diagnosekonzepte sowie modifizierten Formen der Leistungsbeurteilung. (S. 73)
Was muss bei der Entwicklung von Gemeinschaftsschulen beachtet werden?
Die Forschungsgruppe lässt ihrer wissenschaftlichen Analyse einige Empfehlungen folgen, die beim weiteren Auf- und Ausbau von Gemeinschaftsschulen nicht aus den Augen verloren werden dürfen.
Die Vielzahl parallel laufender Entwicklungsvorhaben erfordert Stützungsmaßnahmen
Insgesamt zeigt sich eine Vielzahl an parallel laufender Entwicklungsvorhaben, die in gemeinsam entwickelte Konzepte zu gießen sind. Zudem erfordern derartige Prozesse sehr lange Zeiträume und, wie dies beispielsweise im Fach Englisch ersichtlich wurde, wiederholte (Neu-)Transformationen. Befunde zu noch vergleichsweise gering entwickelten Konzepten (Diagnostik und Leistungsbeurteilung, kooperatives Lernen) interpretiert die Forschungsgruppe dahingehend, dass Schulen den Entwicklungsbedarf zwar im Blick haben, aber aufgrund der parallel laufenden Ansprüche jeweils spezifische Prioritäten setzen und damit Komplexitätsreduzierungen vornehmen. Darauf deuten nicht zuletzt die Erkenntnisse zum Zeitaufwand oder zur Diskussion um veränderte Arbeitszeitmodelle hin (Kap. 3). Die Bewältigung aller (Reform-)Bereiche scheint eine nicht einfach abzuarbeitende Aufgabe zu sein, die Stützungsmaßnahmen erfordert. (S. 73)
Selbstständiges Lernen kann schwächere Schüler überfordern
Insbesondere für Schülerinnen und Schüler des unteren Leistungsniveaus, für welche eine vergleichsweise hohe aktive Lernzeit in den Inputstunden nachgewiesen werden konnte, liegt es nach Auffassung der Forscherinnen und Forscher aus WissGem nahe, die Voraussetzungen für selbstständiges Lernen längerfristig zu planen, selbstorganisiertes Lernen und die damit einhergehenden Lernfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler systematisch aufzubauen. Das in der Studie ersichtliche, vielfach praktizierte Arbeiten in Form von Arbeitspaketen in individuellen Lernphasen scheint für diese Zielgruppe nicht in allen Teilen förderlich zu sein. Begründet ist zu vermuten, dass das hohe Ausmaß an Selbstständigkeit, das Schülerinnen und Schüler für gelingende individuelle Lernphasen benötigen, nicht wenige von ihnen überfordert. (S. 73–74)
Fazit
Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg wurde und wird genauestens unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse sind positiv und enthalten zwei Mahnungen:
- Die Lehrkräfte dürfen sich nicht selbst überfordern, indem sie sich zu viele Innovationen und Konzepte gleichzeitig vornehmen.
- Die schwächeren Schüler dürfen nicht durch ein Zuviel an selbstständigem Arbeiten überfordert werden.
Es zeigen sich erste gute Früchte, nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch anderswo in Deutschland.
Personen, die an der Entwicklung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg entscheiden beteiligt waren, wurden hier und da bereits in diesem Blog vorgestellt.
Literatur: Forschungsgruppe Wissenschaftliche Begleitforschung Gemeinschaftsschulen Baden-Württemberg. (2016). Abschlussbericht (Kurzfassung) (Eberhard Karls Universität, Hrsg.), Tübingen. Quelle: http://www.km-bw.de/site/pbs-bw-new/get/documents/KULTUS.Dachmandant/KULTUS/KM-Homepage/Pressemitteilungen/Pressemitteilungen%202016/WissGem%20Kurzbericht%20Januar%202016.pdf
5 comments On Faktencheck #9: Wie läuft’s in Baden-Württemberg?
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