Wenn jemand wie Eckhard Klieme Auswertungen von PISA kritisiert, dann sollte man das schon ernstnehmen, denn es handelt sich dabei um den Direktor des Deutschen Instituts für Pädagogische Forschung (DIPF) und um den PISA-Projektleiter von 2009 bis dato (2018).
Die Kritik speziell an der Resilienz-Interpretation wurde in diesem Blog bereits dargestellt.
Dass solche Kritik kein neues Phänomen ist, zeigt diese Publikation aus dem Jahr 2006: Jahnke, T. & Meyerhöfer, W. (Hrsg.). PISA & Co – Kritik eines Programms. Hildesheim: Verlag Franzbecker.
Kritik an PISA & Co
Das Buch enthält zehn Beiträge, vorwiegend von Wissenschaftlern mit Schwerpunkt Didaktik der Mathematik und Pädagogik der Grundschule. Man kann einen wesentlichen Gedankengang des Buches vielleicht so zusammenfassen: Weil die PISA-Studien reichlich Anlass für konzeptionelle und methodische Kritik bieten, muss man fragen, ob und welche Ideologie sich möglicherweise dahinter verbirgt.
Das mögen ein paar Zitate aus dem Aufsatz von Prof. Thomas Jahnke (Uni Potsdam): “Zur Ideologie von PISA & Co” verdeutlichen. Er formuliert die Kritik gegen eine gesellschaftlich-ökonomische Funktionalisierung der Bildung, die doch selbst zur kritischen Wahrnehmung und Beurteilung der bestehenden Verhältnisse führen sollte.
Neoliberalistische Umstrukturierung der Bildung
Es verwundert daher wenig, dass sich hinsichtlich der Privatisierungspolitik und Sprachregelung bei globalen Instituten (wie OECD, WTO, Weltbank oder IWF) allenthalben die gleichen Zielvorgaben wiederfinden lassen. Sie lauten: Durchsetzung privatwirtschaftlicher Steuerungsprinzipien im öffentlichen Raum, betriebswirtschaftliche Umgestaltung von Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen, Einführung von Markt- und Management-Elementen auf allen Prozessebenen. (S. 11)
[…]
»Auch wenn die Resultate im einzelnen unterschiedlich ausfallen – diese drei Effekte hat die weltweite neoliberalistische Umstrukturierung der Bildung in jedem Fall: Überall da, wo sie stattfindet, sinken, erstens die Staatsausgaben für den Bildungssektor, verschärft sich, zweitens, die soziale Ungleichheit im Zugang zum Wissen noch einmal drastisch, stellen, drittens, Mittelschicht-Eltern fest, dass es ihnen gefällt, wenn ihre Söhne und Töchter nicht mehr zusammen mit Krethi und Plethi die Schulbank drücken müssen« (Lohmann 2002, S. 103). (S. 11)
Kritik an den Kreuzchen-Tests
PISA lehrt uns, Bildung sei das Geschick, letztlich an der richtigen Stelle ein Kreuzchen zu machen. […]
Ich halte diese Sichtweise nicht für ein methodisches Missverständnis, sondern für eine immanente Absicht dieses Grundbildungsbegriffs, der gar nicht darauf zielt, die Dinge zu durchdenken, sich also an der Sache gedanklich abzuarbeiten, sondern die gewünschte Antwort zu geben, damit der Apparat wie intendiert funktioniert. (S. 15)
Distanzierung eines Mitwirkenden
Einer der an zentraler Stelle Mitwirkenden hat mir versichert, dass er sich von PISA grundsätzlich bis auf das Framework distanziere, er habe sich nur der OECD gegenüber vertraglich verpflichtet, nichts Kritisches über PISA zu publizieren. (S. 16)
Parallelwelten
PISA und die Mathematikdidaktik scheinen in Parallelwelten zu existieren. […] Aber es ist schon merkwürdig, dass diese größte Umwälzung des deutschen Mathematikunterrichtes seit der Mengenlehre wissenschaftlich so spärlich diskutiert wird und theoretisch so dürftig gegründet ist. […] Man kann auch schlecht über PISA diskutieren, weil das Aufgabenmaterial nicht offen vorliegt, was eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem basalen Teil des Programms unmöglich macht. Nach meinem Eindruck ist es auch eine zumindest latente Behinderung eines offenen Gesprächs, dass Kritik an PISA – wie auch immer vorgetragen, sehr schnell umgemünzt oder als Zweifel an der Lauterkeit der PISA-Akteure oder als Missachtung oder Verunglimpfung ihrer persönlichen Anstrengungen empfunden wird. (S. 16–17)
Versteckspiel
Die Zahlen sind bei aller Sorgfalt ihrer Erhebung nichts anderes Zahlen. Will man Erkenntnisse, so muss man die Zahlen interpretieren mit welchen Begriffen auch immer. Diesen Akt enthält das PISA-Konsortium der wissenschaftlichen Öffentlichkeit gänzlich vor. Die durch Zahlenintervalle definierten (!) Kompetenzstufen werden ohne jede weitere Überlegung oder Begründung unmittelbar und übrigens nur für einen Inhaltsbereich gedeutet […] Ein zweites Beispiel für die angesprochene Extrapolation ist die unsinnige Umrechnung von Punktdifferenzen in Schuljahre, wie sie zumindest bei TIMSS vorgenommen wurde. (S. 22)
Handlungsanweisungen sollten Argwohn schüren
Wissenschaftliche Untersuchungen führen in der Regel nicht zu Handlungsanweisungen. Und dort, wo das von ihnen – wie bei PISA – mit Macht behauptet wird, ist Argwohn geboten. Der Komplex der PISA-Folgen, der Lehrerinnen und Lehrer vermutlich eher bedrängt und vielleicht bedrückt als die Frage der wissenschaftlichen Dignität dieses Programms, ist wissenschaftlich kaum legitimierbar. […] Die Expertinnen und Experten für den Unterricht, also die Lehrerinnen und Lehrer werden eher an die Kandare genommen, als dass die Bildungspolitik und -administration ihre Expertise nutzt, den Mathematikunterricht auch in seiner nationalen Ausprägung und Tradition, die durchaus auch im Ausland Anerkennung genoss und genießt, zu verbessern und zu reformieren, statt einen globalisierten, testorientierten Unterricht zu konzipieren, den die deutsche Schule zwar überleben wird, von dem zu erholen sie aber länger brauchen wird, je tiefer sich der Testgedanke und die sogenannte Output-Orientierung eingefressen haben. (S. 26)
Wer sich noch vertieft einarbeiten will: Seite 101ff schreibt Joachim Wuttke einen Beitrag über “Fehler, Verzerrungen, Unsicherheiten in der PISA-Auswertung”, gegen den sich Manfred Prenzel auch schon verteidigt hat, indem er Wuttke einen Rechenfehler nachwies.