Argumente #14: Abkehr von der verbindlichen Übergangsempfehlung

Was wirkt sozial selektiver: Wenn die Eltern über den weiteren Schulweg nach der Grundschule bestimmen dürfen, oder wenn die Lehrer den weiteren Weg mithilfe von Noten verbindlich vorschreiben? Stefan Immerfall, Professor für Soziologie (Schwäbisch Gmünd), und Stefanie Faak, Lehrerin an einer Gemeinschaftsschule (Schleswig-Holstein) stellen ihre Forschungsergebnisse dar.

Quelle: Immerfall, Stefan; Faak, Stefanie (2018): Reformschraube Übertrittsempfehlung. Sind veränderte Übergangsverfahren ein Hebel für mehr Bildungsgerechtigkeit? In: Pädagogik 70 (3), S. 40–43.

Die soziale Selektivität der Übertrittsphase ist gut belegt.

Zur Wahl der Schulform im Anschluss an die Grundschule liegen zahlreiche aussagekräftige Untersuchungen vor. Sie belegen nicht nur die Bedeutung dieser Schwelle für die weitere Bildungskarriere, sondern auch und gerade ihre soziale Selektivität […]. (Immerfall und Faak 2018, S. 40)

Nur noch Bayern und Sachsen regeln den Übertritt verbindlich.

Nachdem die verbindliche Laufbahnempfehlung 2011 in Baden-Württemberg und 2012 in Sachsen-Anhalt abgeschafft wurde, sind Bayern und Sachsen die letzten Bundesländer, die eine Übertrittsempfehlung noch verbindlich aussprechen und an Noten festmachen. In Schleswig-Holstein soll sie aber wieder eingeführt werden. (Immerfall und Faak 2018, S. 40)

Argument 1: Sozial schwache Kinder profitieren vom Wegfall der Verbindlichkeit.

Wenn mit der Abschaffung der bindenden Empfehlung die Gymnasialquoten generell erhöht werden, profitieren die Kinder sozial schwacher Schichten vergleichsweise stärker als statushöhere mit ihren ohnehin schon hohen Gymnasialquoten. (Immerfall und Faak 2018, S. 41)

Argument 2: Die Lehrerempfehlung ist leistungsorientierter als der Elternwunsch und deshalb auch gerechter.

Sie sagt nur, dass die – der Empfehlung der Lehrkräfte folgende – Schulformzuteilung leistungsangemessener sein sollte als die Elternentscheidung. Mehr Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung hätte dann weniger leistungsschwache Kinder bildungsnaher Schichten auf dem Gymnasium und damit geringere soziale Disparitäten zur Folge. (Immerfall und Faak 2018, S. 41)

Studienergebnis: Übergangsregelungen haben keinen nachweisbaren Einfluss auf die sozialen Bildungsungleichheiten.

Schulerfolg und soziale Herkunft hängen in allen bekannten Bildungssystemen zusammen, wenn auch in Deutschland besonders stark (Müller/Kogan 2010). Aus zahlreichen Untersuchungen wissen wir, dass das Schulwahlverhalten der Familien dabei ein wichtiger Faktor ist. Eltern aus den Mittel- und Oberschichten gelingt es häufiger als sozialstatusniedrigen Eltern, dass ihr Nachwuchs auch bei geringerer Begabung einen höheren Schulabschluss erreicht. Ihre Kinder erhalten öfter Empfehlungen für höhere Schullaufbahnen und sie sind im Fall einer Nicht-Empfehlung auch eher bereit, von dieser abzuweichen. Man sollte also annehmen, dass dort, wo nicht die Eltern, sondern die Schulen das letzte Wort beim Übergang in die Sekundarstufe I haben, der Anteil leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler aus privilegierten Elternhäusern zurückgeht und dies »Platz schafft« für leistungsstarke Kinder aus bildungsfernen Familien. Die vorliegende Zusammenfassung aktueller Untersuchungen kann diese Hoffnung nicht bestätigen. Übergangsregelungen haben keinen eindeutig nachweisbaren Einfluss auf soziale Bildungsungleichheiten in der Sekundarstufe I. (Immerfall und Faak 2018, S. 42; Hervorhebung von mir)

Es gibt einen hartnäckigen Zusammenhang von Sozialstatus und Bildungsverlauf.

Wie es scheint, lässt sich der hartnäckige Zusammenhang zwischen privilegiertem sozialen Status und Schulverlauf mit einer einzigen Stellschraube nicht aushebeln. Offenbar wirken sich isolierte Änderungen – wenn überhaupt – nur sehr begrenzt aus, wenn gleichzeitig andere Einflussgrößen gleich blieben.
Wenn sich die erhofften Wirkungsweisen der Übergangsregelungen weder in der einen noch in der anderen Richtung einstellen, liegt es nahe, weitere Gesichtspunkte bei der Gestaltung von Übergangsregelungen stärker zu gewichten. Diese sprechen eher für eine Abkehr von der verbindlichen Grundschulempfehlung. (Immerfall und Faak 2018, S. 43)

In der Folge thematisieren die Autoren folgende weiteren Gesichtspunkte:

  • hohe Stressbelastung für die Kinder;
  • hoher Verantwortungsdruck auf den Lehrern;
  • Druck vonseiten Eltern mit hohen Aspirationen.

Diese negativen Erscheinungen könnten Anlass sein, eine weitere Frage zu stellen:

Die frühe Aufteilung könnte in Frage gestellt werden.

Wenn es selbst einer »strengen« Übergangsauslese am Ende der Grundschulzeit nicht gelingt, leistungsmäßig homogene Schülerschaften unabhängig von der sozialen Herkunft zu erzeugen, könnte dies Anlass sein, nochmals die Frage nach der Sinnhaftigkeit der (frühen) Aufgliederung zu stellen. (Immerfall und Faak 2018, S. 43)

Zur Übertrittsproblematik sind in diesem Blog bereits erschienen:

Bayern: Das Kultusministerium gegen alle;

Ein Faktencheck, der erläutert, dass es die im Übertritt angestrebte Homogenität von Schülergruppen nicht gibt und nicht geben kann;

Ein Rechtsgutachten, dass die Verfassungskonformität der bayerischen Übertrittsregelungen in Frage stellt;

Einige Überlegungen zur Selbstwidersprüchlichkeit des Begriffspaares “verbindliche Übertrittsempfehlung“;

Ein Faktencheck zu den Altersunterschieden der Kinder in der 4. Klasse;

Sichtweisen: Ist das Übertrittsverfahren ein “pädagogischer Unfug” oder “begabungsgerecht” und “verfassungskonform”?

Eine Prezi-Präsentation, die zahlreiche Zitate zum Übertrittsverfahren in einen Zusammenhang bringt;

Eine Einsicht von TIMSS, dass sich die Zweifelhaftigkeiten von Noten mit stark subjektiv gefärbten Einschätzungen von Grundschullehrerinnen verbinden, so dass leistungsfremde Aspekte eine viel zu große Rolle im Übertritt spielen;

Ein Songtext, der die Eltern aufs Korn nimmt: “Du wirst mal übergetreten“;

Ein Protokoll aus dem bayerischen Landtag, als man um die Freigabe des Elternwillens stritt;

Ein Gastbeitrag von Gerd Möller, dem ehemaliger Leiter der Gruppe Bildungsforschung im Ministerium für Schule und Weiterbildung in NRW und Mitglied der deutschen Expertengruppe für Mathematik in PISA zur Übertrittsproblematik.

Ein Faktencheck anhand des Münchner Armutsberichts von 2017, der den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg wieder mal bestätigt;

Eine Studie, die unter anderem belegt, dass die Lehrereinschätzungen im Übertritt bis zu zwei Dritteln fehlerhaft sind.

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