Sichtweisen #52: „Ich bin ein Fremder gewesen…“

Die Überschrift dieses Beitrags ist Teil einer Jesus zugeschriebenen Aussage im Matthäusevangelium, Kapitel 25:

35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen…

40 Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Ich möchte diesen Text kontrastieren mit Ereignissen aus dem Jahr 2018, bei denen  Schülerinnen und Schüler betroffen waren, und anschließend sagen, was ich so erschütternd finde.

Der Kontrast 2018

Meine Quelle ist die jüngste Dokumentation der „Antirassistischen Informationsstelle“, die hier genau erläutert, welche Fälle sie nach welchen Kriterien gesammelt hat. Ich habe exemplarisch drei Ereignisse herausgegriffen, bei denen Schülerinnen und Schüler die Opfer waren. Es lohnt sich, die Dokumentation in ihrer Gesamtheit mal wahrzunehmen.

Der Sohn kranker Eltern wird abgeschoben

Ashot Aharonyan ist der amtlich bestellte Betreuer seiner Mutter. Die 39 Jahre alte Gayane Zakaryan leidet an einem fortschreitenden Gehirntumor. Sie ist halbseitig gelähmt, bettlägerich, zu 100 Prozent schwerbehindert und kann sich nicht selbst versorgen. Auch der Vater ist schwer krank, er hat Leberkrebs. Die Asylanträge der Eltern waren abgelehnt worden, jedoch bekamen sie aufgrund der Erkrankungen unbe-grenzte Duldungen.

Ashot, der im Alter von 15 Jahren seinen Eltern nach Deutschland folgte, um ihnen zu helfen, lernte so schnell Deutsch, daß er die Krankenversorgung und das Leben seiner Eltern organisieren konnte. Er übersetzte amtliche und medizinische Schriftstücke, dolmetschte bei Gesprächen in Ämtern und bei ÄrztInnen und regelte die Versorgung.

Trotz dieser seelischen und körperlichen Belastungen gelang ihm der Schulabschluß an der Auerbacher Mittelschule. Danach besuchte er die Fachoberschule in Nürnberg, um das Abitur zu machen und später zu studieren. Im Mai 2017 wurde er volljährig und bekam umgehend die Ausreiseaufforderung und zunächst Duldungen – die letzte im Dezember 2017.

Als jetzt die Polizisten vor ihm stehen, zeigt er ihnen seinen Betreuerausweis, den diese ihm allerdings wegnehmen und nicht weiter anschauen. Auch sein Handy wird ihm abgenommen. Dann wird er zum Flughafen München transportiert, und als er sein Handy wiederbekommt, ruft er verzweifelt FreundInnen aus der Initiative Neuhaus hilft an und gibt ihnen Anweisungen, was sie bezüglich der akuten und dauerhaften Pflege der Mutter regeln und bedenken müssen. Er schickt auch noch ein Bild aus dem Fenster des Fliegers und wird nach Erivan geflogen.

Von Armenien aus hält er den Kontakt zu seinen Eltern mit dem Smartphone. Bis zu 30 mal täglich telefoniert er mit ihnen und organisiert weiterhin – wie in den letzten Jahren – deren Versorgung und Betreuung. Wenn die Mutter ins Krankenhaus kommt, übersetzt er am Telefon für die ÄrztInnen, wenn sein Vater aufs Amt muß, übersetzt er am Telefon für die BehördenmitarbeiterInnen. Vor allem spricht er mit der Mutter und ist so weiterhin an der Seite der todkranken Frau.

Der HelferInnenkreis bemüht sich fortan auch darum, daß seine behördlich festgelegte Einreisesperre aufgehoben oder verkürzt wird. Es wird Geld für seine Rückreise gesammelt, und im Oktober erhält er nach weiteren Schwierigkeiten ein Visum und fährt mit dem Bus in Richtung Deutschland.

Noch auf dem Wege hierher erfährt er, daß seine Mutter am 19. Oktober – zwei Tage vor seiner geplanten Ankunft – gestorben ist. Am Tag der Abschiebung ihres Sohnes war Gayane Zakaryan ins Krankenhaus gekommen und mußte dort bis Ende Januar stationär behandelt werden. Sie hat ihren Sohn nicht wiedergesehen.

Quellen: Bericht des Betroffenen; Neuhaus hilft; FRat Bayern; SZ 11.2.18; Nordbayerischer Kurier 24.10.18

Frau und Kinder abgeschoben

Mannheim in Baden-Württemberg. Am Vormittag werden zwei Geschwister, zwei und sechs Jahre alt, von der Polizei aus dem Kinderhaus Neckarstadt-West abgeholt und dann mit der zuvor festgenommenen Mutter und dem 10 Jahre alten Bruder ins Flugzeug gesetzt und nach Gambia abgeschoben. Der Vater, ein Libyer, der ein anderes Asylverfahren hat, bleibt in Deutschland, wodurch die Familie getrennt wird.

Alle drei Kinder sind in Deutschland geboren, sprechen Deutsch und besuchen Kindergarten und Schule. Die Eltern haben offensichtlich nicht die Ernsthaftigkeit der Behördenbriefe erkannt und offensichtlich auch nicht jeden möglichen Rechtsweg ausgeschöpft, so daß die Abschiebung an sich den geltenden Gesetzen entspricht. Trotzdem kümmerten sich die Eltern um die Bildung ihrer Kinder, wie Elternrat und ErzieherInnen bestätigen, und nahmen am kulturellen Leben teil.

Der Mann und Vater hat einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Die Familie galt als gut integriert. Aufgrund der Verwurzelung der Familie bleibt der Kontakt zu deutschen Eltern auch nach der Abschiebung bestehen, und so kann die Frau finanziell unterstützt werden und aus einer Baracke in eine 1-Zimmer-Wohnung umziehen. Die Kinder haben große Schwierigkeiten in Gambia, weil ihnen die englische Sprache größtenteils fremd ist.

Quellen: KIM 6.9.18; KIM 10.1.19

Abschiebung aus Schule und Kindergarten

10. Dezember 18, Mannheim in Baden-Württemberg. Mitten aus dem Unterricht in der 6. Klasse der Johannes-Kepler-Gemeinschaftsschule wird ein 11 Jahre alter Schüler von uniformierter Polizei herausgeholt. Gleiches geschieht mit seiner sechsjährigen Schwester, die im Kindergarten ist, mit seinem Vater, der sich auf seiner Arbeitsstelle befindet, und seiner Mutter und noch einem weiteren Kind Zuhause. Dann wird die Familie, die vorher keine Ankündigung hatte, nach Albanien abgeschoben.

Quellen: KIM 18.12.18; FRat BaWü 18.12.18; KIM 10.1.19

Warum schreibe ich das?

Der Kontrast könnte größer nicht sein: Hier das Jesuswort: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“; dort die deutsche Wirklichkeit, in der Fremde, auch wenn sie bereits gut integriert sind, abgeschoben werden. Dabei darf man nicht aus den Augen verlieren, was das einigermaßen neutral und harmlos klingende Verb „abschieben“ in manchen Herkunftsländern bedeuten kann.

Aber das alles ist doch legal, oder?!

Ja, ist es. Aber – es war einmal eine einfache Aussage: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, so lautete der Artikel 16 des Grundgesetzes. Dieses Grundrecht wurde dann sogar noch ausgeweitet auf Flüchtlinge, die wegen ihrer „Rasse, Religion, Nationalität und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ verfolgt wurden.

Außerdem musste die BRD gemäß der Konvention Flüchtlingen ein Recht auf Bildung und Arbeit einräumen. Gleichzeitig war es ihr verboten, einen Asylsuchenden in ein Gebiet abzuschieben, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht waren (nachzulesen hier).

Das einfache und humane Asylrecht wurde nach und nach „ergänzt“ – ich würde sagen: entleert – durch einschränkende europäisierende Zusätze. Wer es genauer wissen will, kann bei amnesty international oder pro asyl die ganze traurige Geschichte nachlesen. Ich finde sie erschütternd.

„Schutz der Außengrenzen“

Man halte sich bitte vor Augen, dass diese offizielle Sprachregelung sich nicht auf die bevorstehende oder denkbare Invasion durch eine feindliche Macht bezieht, so wie sich vor nicht allzu langer Zeit noch Warschauer Pakt und NATO waffenstarrend gegenüberstanden. Es geht um den Schutz vor diesen Menschen:

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Flüchtlingsboot (Quelle Pixabay)

Vor denen also müssen wir uns in Schutz nehmen, unsere Außengrenzen schützen – sagt das europäische Parlament, und hier ist keine andere Interpretation möglich:

Ziele

Für einen einheitlichen Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen – den Schengen-Raum – ist auch eine gemeinsame Politik für den Schutz der Außengrenzen erforderlich. In Artikel 3 Absatz 2 EUV ist in diesem Zusammenhang von „geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen“ die Rede. Die EU bemüht sich daher, gemeinsame Normen für die Kontrollen an ihren Außengrenzen zu schaffen und schrittweise ein integriertes System für den Schutz dieser Grenzen einzurichten (Quelle; Hervorhebungen von mir).

Die deutsche Bundesregierung sieht das genauso:

Einen funktionierenden Außengrenzschutz wertet die Bundesregierung in ihrer Antwort als „ein wichtiges Element für einen sicheren Schengen-Raum ohne Binnengrenzkontrollen“. Dabei ist der Schutz der Außengrenzen laut Vorlage primär Aufgabe des jeweiligen Mitgliedstaates im Rahmen seiner nationalen Souveränität. Besonders betroffene Mitgliedstaaten würden hierbei durch die Europäische Grenz- und Küstenwache Frontex unterstützt. Deutschland beteilige sich ständig mit mehr als 100 Polizeivollzugsbeamten des Bundes und der Länder an den Unterstützungsmaßnahmen von Frontex. Schwerpunkt seien dabei Griechenland, Italien und Bulgarien (Quelle; Hervorhebungen von mir).

Ist es nachvollziehbar, dass mich diese Bedeutungsverschiebung erschüttert? Ist es nicht so, dass diese Redeweise klammheimlich eine Legitimationsgrundlage legt, auf der man getrost „gegen Flüchtlinge“ sein kann? Schließlich sind das ja die Personen, vor denen sich Deutschland und Europa schützen muss! Die sind eine Gefahr für uns!

Das Christliche im Namen

Es gibt immer noch, geboren wohl in der Zeit der Kreuzzüge und der Auseinandersetzung mit dem kriegerischen Islam, die Rede vom „christlichen Abendland“. Das trägt in sich sicher nicht nur geschichtliche Reminiszenzen, sondern zwischen den Zeilen auch den Anspruch der Überlegenheit, da man ja nach christlich-humanitären Maßstäben lebe. So?

Der Punkt, der mich so sehr erschüttert, steckt in den Parteinamen „Christlich-demokratische Union“ und „Christlich-soziale Union“. Es ist leider ausgerechnet der Innenminister aus den Reihen der CSU, der sich bei der Abschiebung und Abwehr von Flüchtlingen so sehr profiliert! Ich fürchte, er tat dies auch aus wahltaktischen Überlegungen heraus, um am so genannten „rechten Rand“ ein paar Wählerstimmen einzufangen und weil er an das Diktum seines – Achtung! – Gottvaters Franz-Josef Strauß glaubt, dass es „rechts von der CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben“ dürfe. Der CSU entstammt auch der unsägliche Begriff der „Anti-Abschiebe-Industrie“, mit dem die Helfer und Lebensretter verunglimpft werden sollten und der zurecht auch zum „Unwort des Jahres“ 2018 geworden ist.

Und die Kanzlerin der CDU, die im Jahr 2015 einmal kurz die Grenzen geöffnet und ihr christliches Anliegen geäußert hat

„Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen, dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“,

– hat dann angesichts der europäischen und Koalitionsverpflichtungen (und möglicherweise auch mit Blick auf kommende Wahlen) rasch wieder gekniffen.

Erschütterung

Was mich so erschüttert ist also, dass deutsche Flüchtlingspolitik in der Sprache und in den Taten von Menschen mit christlichen Ansprüchen betrieben wird, aber nach allem, was ich verstehe, dem Anliegen des Christus, das er in einfachen Worten gepredigt hat, so diametral entgegengesetzt ist.

Das war mir wichtig für den 300. Beitrag in meinem Blog.

Nota bene

Die theologisch Geschulten unter uns fragen angesichts des Textes aus dem Matthäus-Evangelium vielleicht:

  • Wie authentisch können diese Jesus zugeschriebenen Aussagen sein?
  • Und sind damit nicht speziell die Jünger Jesu gemeint?
  • Also kann man daraus eigentlich gar kein christliches Prinzip ableiten?

Der wissenschaftliche Kommentar beschreibt diese Stelle als „Sondergut“ des Evangelisten Matthäus, die sich nahtlos in dessen sonstiges Jesusbild und -botschaft einfügt.

Und dass die in diesem Abschnitt Angesprochenen „nicht nur Christen sind, sondern die Menschen überhaupt, ist klar“ (Schweizer, S. 313).

Aus all dem schließe ich, dass die Aufnahme von Fremden und Flüchtlingen christliches Prinzip ist.

Schweizer, E. (1976). Das Evangelium nach Matthäus (14th ed.). s.l.: Vandenhoeck & Ruprecht.

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