Neusprech #4: “Übertrittsempfehlung”

Warum wird die “(verbindliche) Übertrittsempfehlung” unter der Kategorie “Neusprech” verhandelt?

Es handelt sich bei dieser Formulierung zum ersten um einen Widerspruch in sich selbst, sofern sie sich mit den Adjektiven “verbindlich” oder “verpflichtend” verbindet, denn entweder ist etwas eine Empfehlung, oder es ist verbindlich / verpflichtend. Der Kellner in einem Restaurant kann einem Kunden nicht gleichzeitig ein Gericht empfehlen und ihn darauf verpflichten. Zweitens kommt es zu diesem Selbstwiderspruch, damit die praktizierte Wirklichkeit nicht so deutlich wird, sie muss beschönigt werden. Sprachtheoretisch handelt es sich also um ein Oxymoron, das durch einen Euphemismus verursacht wird.

Bayern

Die Bestimmungen für die Schullaufbahnempfehlung in Bayern finden sich so auf der Website des Kultusministeriums:

Die Schullaufbahnempfehlung stützt sich auf den Gesamtnotendurchschnitt der Fächer Deutsch, Mathematik sowie Heimat- und Sachunterricht.
Bei einem Gesamtnotendurchschnitt der Fächer Deutsch, Mathematik sowie Heimat- und Sachunterricht bis einschließlich 2,33 erhält die Schülerin bzw. der Schüler eine Schullaufbahnempfehlung für den Besuch eines Gymnasiums. Bei einem Gesamtnotendurchschnitt der Fächer Deutsch, Mathematik sowie Heimat- und Sachunterricht bis einschließlich 2,66 erhält die Schülerin bzw. der Schüler eine Schullaufbahnempfehlung für den Besuch einer Realschule. Bei einem Gesamtnotendurchschnitt der Fächer Deutsch, Mathematik sowie Heimat- und Sachunterricht ab 3,00 erhält die Schülerin bzw. der Schüler eine Schullaufbahnempfehlung für den Besuch einer Mittelschule.

Das ist eine Wenn-dann-Bestimmung: Wenn der Schnitt erreicht wird, dann darf das Kind die Realschule oder das Gymnasium besuchen; wenn nicht, dann nicht. Von “Empfehlung” kann nicht die Rede sein.

Der Elternwille kommt durch die folgenden Regelungen zum Tragen:

Schülerinnen und Schüler, die im Übertrittszeugnis der Jahrgangsstufe 4 keine entsprechende Schullaufbahnempfehlung für die gewünschte weiterführende Schulart erhalten haben, können auf Antrag der Erziehungsberechtigten – unabhängig von den in der Grundschule erreichten Noten – am Probeunterricht des Gymnasiums bzw. der Realschule teilnehmen… Der Probeunterricht ist bestanden, wenn in einem Fach mindestens die Note 3 und im anderen Fach mindestens die Note 4 erreicht wird. 

Stärkung der Elternverantwortung im Probeunterricht bis zur pädagogisch vertretbaren Grenze
Wird der Probeunterricht nicht bestanden, können Schülerinnen und Schüler dennoch in die Jahrgangsstufe 5 des Gymnasiums bzw. der Realschule übertreten, wenn die Erziehungsberechtigten dies wünschen. Voraussetzung ist, dass die Schülerinnen und Schüler im Probeunterricht mindestens in beiden Fächern die Note 4 erreicht haben. Die Elternverantwortung wird hierdurch nachhaltig gestärkt.

Also auch hier eine klare Wenn-dann-Regel; der Elternwille erhält einen gewissen Spielraum, der aus Sicht des Kultusministeriums eine “nachhaltige Stärkung” bedeutet. Auch diese Formulierung darf unter Euphemismusverdacht  gestellt werden.

In der verhandelten Neusprechphrase fehlt hier das “verbindlich”. Aber es ist ja wohl deutlich geworden, dass das ganze Verfahren verbindlich, weil auf Noten bezogen, gehandhabt wird. Die Stärkung des Elternwillens besteht darin, dass die Erziehungsberechtigten ihre Kinder zunächst in den Probeunterricht und dann auch bei schlechten Leistungen innerhalb eines kleinen Spielraums zur Realschule oder zum Gymnasium schicken können.

Gegen diesen Umgang mit dem Elternwillen gibt es ein Gutachten des Juristen Wolfram Cremer von der Ruhr-Universität Bochum, der bemängelt, dass damit dem Grundgesetz nicht Genüge getan wird und dass die hohe Erfolgsquote im Probeunterricht – sie lag für das Gymnasium 2013 bei 51,3 % und für die Realschule bei 20,5 % – im Widerspruch steht zu einem vorher erteilten “nicht geeignet” im Übertrittszeugnis. Das alles kann in diesem Blogbeitrag nachgelesen werden.

Man darf gespannt darauf warten, was geschieht, wenn die ersten Eltern aufgrund dieses Gutachtens juristisch gegen eine Übertrittsentscheidung vorgehen.

Baden-Württemberg

Der aktuelle Stand im Ländle wird beispielsweise in diesem Zeitungsbericht dargestellt: Die Grundschulempfehlung soll in Zukunft verpflichtend bei der jeweiligen Schule vorgelegt werden, sie wird zur Voraussetzung für eine rechtswirksame Anmeldung. Die Eltern können dabei weiterhin über den weiteren Schulbesuch entscheiden. Wenn sie sich nicht an die Empfehlung halten, kann die aufnehmende Schule ein Beratungsgespräch anbieten.

Dem Realschullehrerverband geht das nicht weit genug; er fordert die Wiedereinführung der verpflichtenden Grundschulempfehlung und outet sich damit als Neusprech-Advokat. Was sagen die Eltern? Der Landeselternbeirat ist (genauso wie die GEW) für die Beibehaltung der reinen Empfehlung und natürlich die Stärkung des Elternwillens.

Andere Bundesländer

Hier nur eine kleine Auswahl von alternativen Regelungsmöglichkeiten und echten Empfehlungen:

Niedersachsen

Niedersächsisches Schulgesetz NSchG in der Fassung vom 03.03.1998 zuletzt geändert durch Art. I des Gesetzes vom 29.04.04, I.Teil § 6 Abs. 5 „Am Ende des 4. Schuljahrgangs gibt die Grundschule eine Empfehlung über die geeignete weiterführende Schulform ab. Hierzu führt die Schule im 4. Schuljahrgang einen Dialog mit den Erziehungsberechtigten, damit diese eine am Kindeswohl orientierte Schulformentscheidung treffen können. Die Erziehungsberechtigten entscheiden in eigener Verantwortung über die Schulform ihrer Kinder.“

Sachsen-Anhalt

Gemäß der Verordnung über die Übergänge zwischen den Schulformen in der Sekundarstufe I (Sek I-Üg-VO) vom 1.4.2004 (GVBI. LSA S. 238), zuletzt geändert durch Verordnung vom 7.5.2013 (GVBI. LSA S. 235), wird die Schullaufbahnempfehlung auf der Grundlage der erzielten Leistungen, des Lernverhaltens und der Persönlichkeitsentwicklung der Schülerin oder des Schülers von der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer vorbereitet und von der Klassenkonferenz beschlossen. Sie dient der Entscheidungsfindung der Personensorgeberechtigten und ist nicht bindend.

Hessen

Nach einer Grundschulzeit von vier Jahren wechseln die Kinder in Hessen auf die weiterführende Schule, also von der 4. zur 5. Klasse. Die Wahl des Bildungsgangs nach der Grundschule ist grundsätzlich Sache der Eltern, die bei dieser Entscheidung vor allem von den Lehrkräften der Grundschulen unterstützt werden. 

Die Klassenkonferenzen in der Grundschule sprechen für jedes Kind eine Empfehlung für den weiteren Bildungsgang aus, der für die Bedürfnisse und die Fähigkeiten des Kindes am besten geeignet erscheint. Diese wird den Eltern in einem Beratungsgespräch mitgeteilt. Empfehlung ist jedoch nicht bindend.

Schleswig-Holstein

Das Bundesland hat den Eltern auch in Bezug auf Inklusion ein weitgehendes Entscheidungsrecht eingeräumt.

Übergang an die weiterführenden allgemein bildenden Schulen zum Schuljahr 2017/18 Erlass des Ministeriums für Schule und Berufsbildung vom 28. Juni 2016 – III 251 I. Ziel des Erlasses Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Schulgesetz können die Eltern im Rahmen der von der Schulaufsichtsbehörde nach Anhörung des Schulträgers festgesetzten Aufnahmemöglichkeiten aus dem vorhandenen Angebot an weiterführenden allgemein bildenden Schulen wählen. Dieser Erlass dient der Koordinierung des Verfahrens und der Bekanntgabe verbindlich einzuhaltender Termine. Zudem sollen die Regelungen dieses Erlasses dem grundsätzlichen Recht auf freie Schulwahl auch der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf Wirksamkeit verschaffen und gleichzeitig sicherstellen, dass sie einen Platz an der Schule erhalten, an der ihrem individuellen Förderbedarf am besten entsprochen werden kann.

5 comments On Neusprech #4: “Übertrittsempfehlung”

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