“Fair” heißt: ungleich verteilen!

“Ungleiches ungleich behandeln” ist ein Grundsatz der Juristerei. Wir hatten das schon mal im Zusammenhang mit der Frage der Bildungsgerechtigkeit in einem Beitrag von Möller und Bellenberg. Jetzt hat Marcel Helbig (siehe auch hier) vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) weitere Überlegungen dazu angestellt. Hier einige Zitate daraus.


Helbig, M. (Juni 2023). Eine „faire“ Verteilung der Mittel aus dem Startchancenprogramm erfordert eine ungleiche Verteilung auf die Bundesländer. Eine Abschätzung der Mittelbedarfe für die deutschen Grundschulen anhand der Armutsquoten in den Sozialräumen. (Discussion Paper P 2023-001). Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.


Zusammenfassung

“In der vorliegenden Studie wurden erstmals für alle deutschen öffentlichen Schulen mit einem Grundschulteil die Kinderarmutsquoten für die Grundschuleinzugsgebiete berechnet. Auf Grundlage der Ergebnisse konnte bestimmt werden wo in Deutschland die Schulen mit der höchsten Kinderarmutsquoten verortet sind.

  • Die anteilig meisten Schulen mit einer hohen Kinderarmutsquote befinden sich in Nordrhein-Westfalen und den drei Stadtstaaten.
  • Die wenigsten befinden sich in Bayern und Baden-Württemberg.

Will der Bund, wie im Koalitionsvertrag festgehalten, diese Schulen im sogenannten Startchancenprogramm zusätzlich fördern, dann ergibt sich eine deutlich andere Verteilung der Mittel als über andere Berechnungsmethoden wie den Königsteiner Schlüssel oder einen multidimensionalen Verteilungsschlüssel.

Besonders Bayern und Baden-Württemberg würden nur einen Bruchteil der Mittel erhalten, die Schulen in Bremen, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt würden hingegen deutlich stärker profitieren. Die Berechnungen zeigen aber auch, dass Schulen in größeren Städten deutlich stärker profitieren würden als auf dem Land. Nur in Brandenburg würden Schulen in ländlichen Räumen stärker von einer Zuteilung der Mittel nach den Kinderarmutsquoten profitieren. Aus methodischen Gründen konnten für die Studie keine Kinderarmutsquoten für die Sekundarschulen berechnet werden.” (Helbig 2023, S. 3)

Aus dem Wohnraum in die Brennpunktschule

“Als ,Brennpunktschulen’ oder Schulen in schwieriger Lage bezeichnet, weisen diese Schulen deutlich schlechtere Bildungsergebnisse auf als Schulen, in denen nur wenige soziale Problemlagen vorherrschen. Dass sich soziale Problemlagen ungleich verteilen, hängt gerade im Grundschulbereich (wo vor allem die wohnortnahe Schule besucht wird) damit zusammen, dass sich die Wohnlage von Menschen in Deutschland am Einkommen orientiert.

Innerhalb Deutschlands und vor allem innerhalb deutscher Städte entstehen so Quartiere in denen sich arme Familie ballen. Man spricht hierbei von einer residentiellen sozialen Segregation, die sich in eine soziale Segregation von Schulen übersetzt. Darüber hinaus führt die frühe Trennung von leistungsstärkeren und leistungsschwächeren Schülern und Schülerinnen ab der 5. Klasse dazu, dass Kinder sozial privilegierter Gruppen weit überdurchschnittlich an Gymnasien zu finden sind und sozial benachteiligte Gruppen vor allem an nicht-gymnasialen Schulformen anzutreffen sind (…).” (Helbig 2023, S. 4)

Das Startchancenprogramm

“Über das sogenannte Startchancenprogramm sollen 4.000 Schulen durch Investitionsmittel für Schulbau, ein sogenanntes Chancenbudget sowie zusätzliche Mittel für Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen unterstützt werden. Die Schulen, die gefördert werden sollen, sollen jene sein, die sich durch einen hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern auszeichnen, die Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) haben.

Es ist davon auszugehen, dass das Startchancenprogramm – obwohl so nie explizit formuliert – nicht auf den Ausgleich von Kontexteffekten ausgerichtet ist. Vielmehr zielt das Startchancenprogramm darauf ab, die Bildungschancen sozial benachteiligter Schüler und Schülerinnen über eine Förderung der Bildungsinstitutionen zu steigern, die diese Schüler und Schülerinnen in großer Zahl besuchen. Dementsprechend liegt es für eine möglichst effektive Förderung möglichst vieler sozial benachteiligter Schüler und Schülerinnen nahe, vor allem diejenigen Schulen zu fördern, in denen sich besonders viele sozial benachteiligte Schüler und Schülerinnen befinden.” (Helbig 2023, S. 4–5)

Erste Kritik am Königsteiner Schlüssel

“Eine Zuweisung der Startchancenmittel nach Königsteiner Schlüssel oder nach Schülerzahl der Bundesländer ist der Problemstellung nicht angemessen, wie beispielsweise Fickermann et al. (2022) betonen. Indem sie anhand verschiedener Indikatoren einen multiplen Belastungsindex für die Bundesländer berechnen, zeigen die Autoren, dass nach diesem Index die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg oder Sachsen weniger Geld aus dem Startchancenprogramm erhalten würden als dies bei einer Verteilung nach dem Königssteiner Schlüssel der Fall wäre. Nordrhein-Westfalen oder Bremen hingegen erhielten deutlich mehr Geld.

Bei dieser Studie wurde allerdings mit Durchschnittswerten für einzelne Bundesländer gerechnet und vernachlässigt, dass sich der Anteil von Kindern, die beispielsweise BuT-leistungsberechtigt sind, innerhalb der Bundesländern höchst ungleich auf die Schulen verteilen kann.” (Helbig 2023, S. 5)

Kinderarmutsquoten 2019

“In Abbildung 1 ist kartografisch für die Einzugsgebiete aller öffentlichen deutschen Grundschulen abgetragen, wie hoch die Armutsquoten in den jeweiligen Grundschuleinzugsgebieten sind. Hierbei zeigen sich sehr hohe Armutsquoten in den Agglomerationsräumen Nordrhein-Westfalens, in Bremen, Berlin, Hamburg, in und um Hannover, im Rhein-Main Gebiet und in Teilen Ostdeutschlands. Geringe Armutsquoten zeigen sich vor allem in Bayern, Baden-Württemberg und einigen ländlichen Räumen.” (Helbig 2023, S. 9)

Neue Verteilung der Finanzmittel

“Diese Verteilung, die sich ausschließlich an der sozialen Belastung der Grundschulen orientiert, wäre deutlich ungleicher über die Bundesländer verteilt, als der von Fickermann et al. (2022) vorgeschlagene Verteilungsschlüssel nach einem multiplen Belastungsindex. Letzterer richtet sich aber allein nach Durchschnittswerten der Länder und wurde nicht danach konstruiert, die am meisten benachteiligten Schulen zu fördern.” (Helbig 2023, S. 11)

Vergleich der Verteilungsschlüssel

Fazit

“In dieser Studie wurde für die Grundschulen in Deutschland berechnet, wie die Mittel des Startchancenprogramms verteilt werden müssten, wenn man allein die Armutsquoten im schulischen Umfeld für die Berechnung heranzieht. Eine derartige Datengrundlage existiert für Deutschland bisher nicht, sie stellt aber eine wichtige empirische Basis für die politische Diskussion zur Verteilung der Startchancenmittel dar. Mehr als alle bisherigen alternativen Verteilungsvorschläge legt diese nämlich die tatsächliche Deprivation von Schulen zugrunde und entspricht damit am ehesten dem Ziel, auf das sich die amtierende Bundesregierung im Koalitionsvertrag geeinigt hat.

Wählt man nur die 2.000 Grundschulen aus, die die höchsten Kinderarmutsquoten im Einzugsgebiet aufweisen, dann würde die Verteilung zwischen den Bundesländern substantiell anderes aussehen als nach Königsteiner Schlüssel oder einem Multiplen Belastungsindex (Fickermann et al. 2022). Besonders Baden-Württemberg und Bayern würden deutlich weniger Mittel aus dem Startchancenprogramm erhalten, während Bremen, Berlin oder Nordrhein-Westfalen einen deutlich höheren Anteil bekämen.

Die hier vorgestellte Studie soll eine am Koalitionsvertrag orientierte, empirische Alternative zur Verteilung der Startchancenmittel aufzeigen. Die an den SGB-II Empfängern unter 15 Jahren orientierte Kinderarmutsquote im Einzugsgebiet der Grundschulen ist hierfür ein sehr gutes Maß, das auch an anderen Stellen Anwendung findet (z.B. bei der Berechnung der Sozialindices einiger Länder). Ob die tatsächliche Verteilung der Mittel an einzelne Grundschulen den hier vorgestellten Berechnungen folgen sollte (für eine detaillierte Kartenanwendung siehe https://www.kinderarmut-an-schulen.de/) ist dennoch kritisch zu diskutieren.” (Helbig 2023, S. 15)

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Site Footer

Sliding Sidebar

Pro-Truth-Pledge


I signed the Pro-Truth Pledge:
please hold me accountable.

Blog per E-Mail folgen

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten.

%d Bloggern gefällt das: