Zwischenbericht von einem Selbstversuch zur Digitalisierung des Lernens
Seit ungefähr sieben Wochen lerne ich mit einer Sprach-App (für Handy + PC) Französisch. Als Lehrer vergleiche ich diese Art von Lernen unwillkürlich mit dem Unterricht, den ich selbst genossen, erteilt oder beobachtet habe. Um es gleich vorweg zu nehmen: Die App schneidet gut ab, vor allem in den Bereichen Motivation und Unabhängigkeit.
Anmerkung:
Damit das hier nicht als Werbung missverstanden wird, werde ich den Namen der App nicht nennen. Allerdings werde ich ein paar Screenshots einkopieren, damit die geneigten Lesenden eine bessere Anschauung meines Berichts entwickeln können. Ich kenne keine anderen Sprachlern-Apps, gehe aber davon aus, dass diese eine ähnliche Vorgehensweise oder Qualität haben. Wer den Namen der von mir beschriebenen App wissen will, sende einfach eine Mail an r.gruettner(at)arcor.de.
Nutzererlebnis
Lernhappen
Der zu lernende „Stoff“ wird in kleinste Schritte aufgeteilt (das dahinter stehende pädagogische Prinzip konnte ich noch nicht ausfindig machen. Siehe weiter unten unter „Schwächen“). Die Progression besteht aus
- Präsentation
- Satzbildung aus Bausteinen
- freie Satzformulierung
- Alles wird immer von Sprecher:innen begleitet. Ausspracheübungen mit Kontrolle sind Standard und werden auch getrennt ausgewertet.
Sprachvorbild
Sehr hilfreich finde ich, dass die Zielsprache von verschiedenen Sprechern und in natürlichem Sprechtempo artikuliert wird. Das hat zwar speziell in Französisch seine eigene Problematik, da hier in der Aussprache sehr viel verschliffen wird. Aber wer es langsamer braucht, kann sich mit der Schildkröte behelfen – dem Symbol, das man anklickt, wenn man es Wort für Wort ausgesprochen braucht.
Motivation
Jede noch so kleine richtig gegebene Antwort wird belohnt.
Man sammelt Punkte, die schon auf niedrigen Stufen mit Auszeichnungen verbunden werden.
Hier ein Beispiel für die täglichen Aufgaben:

Und so sieht es dann aus, wenn man fleißig Punkte und Streaks und was weiß ich sammelt:

Erkennbar ohne Probleme: Den Lernenden ist immer klar, wo sie gerade stehen. Die beiden Screenshots oben zeigen den individuellen Lernfortschritt, oder genauer: die bisher investierte Arbeit.
Es gibt auch den Aspekt des Wettbewerbs, dazu kommt gleich noch Genaueres.
Feedback
Die große Stärke nicht nur dieser, sondern vieler Lern-Apps ist die unmittelbare und individuelle Rückmeldung.
Unmittelbar: Nach jeder erledigten Einzelaufgabe, erfährst du sofort, ob du richtig oder falsch bist. Manchmal nervt die Genauigkeit – gerade im Französischen, wo es so viele nicht ausgesprochene Endungen gibt. Wenn da Geschlecht und Numerus eines Adjektivs oder ein Artikel nicht stimmen, wirst du gleich angemeckert. Beispiel:

Individuell: Du bekommst die Fehler bei passender Gelegenheit noch einmal (und noch einmal und noch einmal…) serviert und kannst zeigen, ob du das jetzt kapiert hast oder nicht. Der Algorithmus ist ebenso geduldig wie unermüdlich und hartnäckig.
Man verzeihe mir den Seitenblick auf die Hattiestudie: Unmittelbares Feedback ist für Lernende eminent wichtig und hat mit die höchsten Effektstärken:

Das individuelle Üben sieht so aus:

Erinnerung
Die App erinnert dich jeden Tag daran, dass du wenigstens ein bisschen lernst. Eine Lektion reicht, damit du deinen Streak erhältst. Ein Streak ist die Anzahl der Tage, die du es hintereinander schaffst, wenigstens ein bisschen was zu lernen. Das sieht dann beispielsweise so aus:

Wenn man doch mal einen Tag abreißen lässt, kein Problem: Es gibt ein „Belohnungs“-System, in welchem man Edelsteine ansammeln kann. Die darf man dann zur „Rettung“ des Streaks einsetzen. Hab ich auch schon mal gemacht.
Wettbewerb
Du wirst von der App in eine Fleiß-Rangfolge gestellt mit gleichzeitig Lernenden.

Einschränkung
Erfolgreiche Lerner zu motivieren, ist nicht so schwer. Wie es denen geht, die weniger Zeit in die App investieren können oder wollen, kann ich nicht einschätzen. Meine Tochter (16) lernt gern damit Spanisch. Mein Sohn (14) ist genervt von Englisch, weil da manches nicht mit dem zusammenpasst, was er von der Schule her weiß.
Und generell gilt wohl auch: Wer in einem Wettbewerb nicht so gut abschneidet, ist vielleicht motiviert sich zu verbessern. Möglicherweise aber hat er oder sie dann „keinen Bock mehr“.
Unabhängigkeit
Unterricht ist für uns gewohnter Maßen etwas, das in einem Klassenraum zu einer bestimmten Zeit geschieht. Das führt unter anderem regelmäßig zu der Frage nach den entwicklungsgemäßen Unterrichtszeiten oder den angemessenen Klassenzimmergrößen.
Bei Lernapps ist der große Vorteil – den ich aufgrund seiner Selbstverständlichkeit fast zu erwähnen vergessen hatte -, dass man sie auf dem Computer oder mit dem Smartphone nutzen kann wann immer und wo immer man will. Lernen wird unabhängig von Ort und Zeit. So habe ich mit der hier beschriebenen App zuhause in Oberbayern das Lernen begonnen, es bei einem Verwandtenbesuch in Köln fortgesetzt, im Urlaub auf einer Nordseeinsel fleißig weitergeführt, es in einer Hamburger Jugendherberge nicht vergessen und mir die Zeit während eines Staus mit Stillstand auf der A9 vertrieben.
Schwächen
Was ich vermisse – mir fehlen die Übersichten, damit man sich systematisch etwas aneignen kann. Es mangelt an
- Verbtabellen für die regelmäßigen, aber vor allem für die unregelmäßigen Verben;
- Vokabellisten, am besten sortiert nach der ersten Begegnung oder/und nach Themengebieten;
- Wortartübersichten, vor allem dann, wenn es unübersichtlich wird, zum Beispiel bei Präpositionen, Adverbien und Konjunktionen.
- Grammatik-Übersichten zur Verwendung von Phänomenen wie z. B. „en“ oder „y“.
Zu all dem musste ich mir begleitende Ressourcen suchen. Was den Wortschatz betrifft, ist man bei leo.org gut aufgehoben. Da gibt es dann auch die Möglichkeit, selbst Listen anzulegen und den angebotenen Trainer zu nutzen.

Als Lehrer würde mich auch das zugrundeliegende pädagogische Konzept interessieren. Erkennbar ist nur, dass das Vokabular (meist) kleinschrittig eingeführt wird und man versucht hat, sich an den Alltag anzupassen. Das gelingt in der Regel, aber mit witzigen Ausnahmen: Sowohl im der englischen als auch in der französischen Version kommt ganz früh der “Bär” als Vokabel – warum auch immer.
Die Verben beginnen natürlich mit Aussagen in der Gegenwartsform. Andere Zeiten habe ich bis jetzt noch nicht gelernt.
Fazit
Solch eine Sprachlern-App zeigt mir, was an Individualisierung im Vorgehen, in der Rückmeldung und im Üben möglich ist und wie wenig individuell ich mit den Schülerinnen und Schülern in einer normalen Klasse arbeiten kann. Von daher verstehe und unterstütze ich die Bemühungen zu einer entsprechenden pädagogisch sinnvollen Weiterentwicklung, wie sie u.a. Frau Prof. Uta Hauck-Thum von der LMU beforscht: https://www.digitalitaet.com/.