Als meine Schule eine Stelle als “Wehrbeauftragte Waffenträgerin zur Abwehr von Amokläufern” (WWAA) ausschrieb und dafür verschiedene Vorteile bezüglich Schullaufbahn und Schulalltag in Aussicht stellte, meldete ich mich dafür. Immerhin hatte ich beste Voraussetzungen: Mein Mann war Mitglied eines Schützenvereins, ich durfte seine Waffen nach Übungen mit den Kameraden von Rauch und Erdspuren befreien. Also wusste ich, was eine Waffe ist. Zudem war seit meiner Kindheit “Wo
nder Woman” mein Vorbild. Die hat zwar keine Waffen, aber die braucht sie auch nicht, wegen der Armbänder aus Titonit, die alle Kugeln abfangen können. Naja, physikalisch nicht ganz in Ordnung, denn wo bleibt der Rückstoß? Aber was soll’s.
Solche Voraussetzungen überzeugten auch meine Direktorin. Sie versprach mir, meine Beförderung zur Oberstudienrätin zu beschleunigen, und außerdem wurde ich von den ungeliebten Klassenfahrten befreit. Dort wollen die Jungs sich nur besaufen und die Mädels fremde Männer aufreißen. Und ich als vorübergehend Verantwortliche soll das verhindern. Da ist es einfacher, einen Amokläufer mitten im Lauf zu stoppen, als pubertierende Mädels in Miniröcken von Männern fernzuhalten. Diese Argumente leuchteten auch der Direktorin ein, und so begann meine Karriere als WWAA.
Aber das war gar nicht so einfach. Es fing mit der Ausrüstung an. Natürlich hatte die Schule kein Geld, also waren wir auf ausgemusterte Waffen der Bundeswehr angewiesen. Die hatte vor kurzem ein Gewehr von Heckler und Koch als unangemessen eingestuft, weil es bei Erwärmung auf über 25° um die Ecke schoss. Das, so argumentierten die Fachbeauftragten an unserer Schule, sei im Ernstfall durchaus von Vorteil. Schließlich könnte sich der Attentäter irgendwo verstecken, da wäre ein Schuss um die Ecke genau das Richtige. Und so übten wir
Zielen durch Schielen, eine interessante Herausforderung.
Die nächste Schwierigkeit bestand darin, die Waffe immer mit sich zu tragen, ohne dass es jemand merkt. Diese Anonymität sollte potenzielle Amokläufer abschrecken, denn dann weiß er nicht, welchen Lehrer er als erstes erschießen soll. So ein Sturmgewehr ist aber nicht so ohne. Im Gegensatz zu meinen männlichen Kollegen trage ich kein Jackett, unter dem eine Waffe verborgen werden könnte. Eine Weile versuchte ich, das Ding in der Unterhose zu verstecken. Aber abgesehen von den körperlichen Unannehmlichkeiten (ist das kalt!) und der Tatsache, dass es doch jeder merkt, war die Angelegenheit nicht nur für meine Blase fatal: Das Gewehr erwärmte sich, die Zielrichtung wurde noch weniger beherrschbar als im kühlen Zustand. Also versteckte ich das Instrument im Kasten mit biologischen Präparaten. Zwischen einer jungen Pythonschlange und einem geschrumpften Dreizehenfaultier wird es ja wohl keiner bemerken. Doch jeder in der Schule wusste es, aber es blieb zu hoffen, dass der potenzielle Attentäter von außen kam und die Sammlungen dieser Schule nicht so gut kannte wie ich oder die Schüler.
Die Ausbildung im Schießen war anstrengend, aber nicht so anstrengend wie die besagten Klassenfahrten. Und dann trat eines Tages, wer hätte das gedacht, der Ernstfall ein. Überall im Haus schrillten die Alarmglocken, aber jeder dachte, es wäre einer der üblichen Übungen für den Ernstfall, also für die Zeugnisvergabe. Doch dann hörten wir Schüsse im Haus, und da wusste zumindest ich: Deine Zeit ist gekommen.
Als erstes wollte ich mein Sturmgewehr holen, doch eine Kollegin hatte es beiseite geräumt, weil es zu viel Platz wegnahm. Bevor ich es im Physikzimmer (zu dem ich keinen Schlüssel hatte) hinter dem Planetarium fand, verging einige Zeit, und die Schüsse hörten nicht auf. Dann aber rannte ich, wie vorgeschrieben, sofort zum Attentäter, um ihn unschädlich zu machen.
Bloß, wo war er? Unsere Schule beherbergt an die tausend Schüler in drei Stockwerken, zwei Haupt- und fünf Nebengebäuden. Allein auf den Klang der Schüsse zu hören brachte nichts, denn die Echos kamen von allen Seiten, und wo war das Original? Ich rannte also Treppen rauf und runter, fragte vorbeieilende Schüler, ob sie jemand mit einer Waffe gesehen hätten, aber die hatten es immer so eilig, dass ich keine
vernünftigen Informationen erhielt. Doch dann, purer Zufall, Glück oder Intuition, sah ich ihn. Und ich war schockiert: Es war ein Schüler aus meiner Klasse, einer der besten der ganzen Schule, bei allen beliebt, mit dem hübschesten Mädchen befreundet, in Mathe ebenso gut wie im Sport. Zudem trug er das gleiche Sturmgewehr wie ich. Als er mich gerade erschießen wollte, und ich ihn, hörten wir einen weiteren Schuss ganz in der Nähe. Wir liefen den Gang entlang, und dann fanden wir ihn, den echten Amokläufer. Er hatte aus Frust, niemanden getroffen zu haben, sich selbst zu erschießen versucht, aber auch das war daneben gegangen. So wurde er später ärztlich versorgt und vor Gericht zu einer Bewährungsstrafe wegen Störung des Schulfriedens verurteilt. Doch das nur nebenbei.
Der gute Schüler mit dem Sturmgewehr aber war der WWAA auf Schülerseite, denn natürlich mussten sich auch die Schüler bewaffnen und ebenfalls anonym bleiben. Die Direktorin, zu der wir später
einzeln gerufen wurden, lobte meinen Einsatz und teilte mir mit, dass ich mein diesbezügliches Amt nun leider aufgeben müsse, da meine Anonymität (die ohnedies nie bestanden hatte) offiziell aufgehoben wäre, ich mithin nicht mehr abschreckend wirke. Somit müsse ich ab sofort auch wieder Klassenfahrten übernehmen (“Aber ohne Waffe!” fügte sie mit schalkhaftem Lächeln hinzu), und für meine Beförderung zur Oberstudienrätin innerhalb der nächsten zwanzig Jahre würde sie sich auch weiterhin einsetzen, da könne ich ganz zuversichtlich sein. Mein vorsichtiger Einwand, ich wäre dann 77, konterte sie mit der Bemerkung, wenn es so weit wäre, müssten die Menschen auch bis zu diesem Alter arbeiten. Schließlich wäre ich noch fit, und als Rentner kämen die Leute ohnedies nur auf üble Ideen.
Zum Beispiel die Direktorin ihrer ehemaligen Schule zu erschießen. Aber das gehört nicht hierher.