In diesem Blog habe ich schon öfters darauf hingewiesen, dass unser Schulsystem auf verschiedenste Weise die sozialen Unterschiede der Gesellschaft nicht nur nicht ausgleicht, sondern noch vertieft. Dies bestätigt nun auch eine Nachhilfe-Studie der Hans-Böckler-Stiftung.
Welche Kinder nehmen Nachhilfe in Anspruch?
Die Nachhilfe-Anbieter schätzen, dass die Mehrheit ihrer Kunden aus der Mittelschicht kommt (Abb 16, S. 126).
Eine genauere Analyse zeigt, dass der Anteil der Kinder aus reichem Elternhaus mit 30%, die bezahlte Nachhilfe in Anspruch nehmen, am stärksten ist, der von Kindern aus unteren Einkommensschichten mit 13% bezahlter und 3% unbezahlter Nachhilfe am geringsten. (Abb 18, S. 130).
Zitate aus der Studie
Schule als entscheidende Dirigierungsstelle für individuelle Zukunftschancen
Die herausragende Bedeutung der Schule für Lebenschancen der Schüler hat bereits Schelsky (1957, S. 18) schon in den 1950er Jahren betont, als er die Schule als die „erste und damit entscheidende zentrale Dirigierungsstelle für die künftige soziale Sicherheit, für den künftigen sozialen Rang und für das Ausmaß künftiger Konsummöglichkeiten“ bezeichnet hat. Das wissen auch die Eltern, die durch Nachhilfe vor allem die Chancen ihrer Kinder in diesem Prozess mit seinen verschiedenen Selektionsstufen zu verbessern suchen. Wenn Wissenslücken durch Nachhilfeunterricht gefüllt werden sollen, dann zielt dies vorrangig auf die Verbesserung von Noten, das Erreichen der nächsten Klassenstufe oder eines bestimmten Abschlusses und die Lerninhalte dienen weniger der Qualifikation, als dass sie Mittel zum Erreichen von Bildungserfolgen sind. (S. 97)
Veränderungen der Elternaspirationen über zehn Jahre
In der Grundschulstudie IGLU äußerten beispielsweise im Jahre 2001 noch 22 Prozent der befragten Eltern die Schulpräferenz „Hauptschule“, zehn Jahre später waren es nur noch 12 Prozent. Zugleich ist der Anteil der Eltern, die sich einen Gymnasialabschluss für ihre Kinder wünschen, von 41 auf knapp 46 Prozent gestiegen und der Anteil derer mit einer Präferenz für Schulen mit mehreren Bildungsgängen hat sich von knapp acht auf gut 14 Prozent fast verdoppelt (Stubbe et al. 2012, S. 213). (S. 99)
Eltern mobilisieren zusätzliche Ressourcen im Konkurrenzkampf im Bildungswesen
Nachdem durch die Bildungsexpansion die Konkurrenz im Bildungswesen und damit der Wettbewerb um prestigeträchtige gesellschaftliche Positionen zugenommen hat, verschärft sich durch die Reformen der Konkurrenzkampf weiter. Daher erscheint es gerade den Eltern immer notwendiger, zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren. Die sind allerdings zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten höchst ungleich verteilt, so dass gerade die Mittel- und Oberschichten in diesem Konkurrenzkampf wiederum im Vorteil sind, obwohl sie am lautesten über die Reformen klagen. Zu den von ihnen mobilisierten Ressourcen gehören beispielsweise die Wahrnehmung spezieller Fördermaßnahmen bereits im frühen Kindesalter, die verstärkte Inanspruchnahme kultureller Angebote, die Auswahl der „richtigen“ Schule, ggfs. auch eine Privatschule und schließlich auch der Zukauf zusätzlichen Unterrichts bei Nachhilfelehrern und -instituten. (S. 100)
“Idealistische” Bildungsaspirationen der Mittel- und Oberschichteltern
Je höher die Bildungsansprüche der sozialen Umwelt der Eltern sind und umso selbstverständlicher diese gelten, desto wahrscheinlicher werden die Eltern auch für ihre Kinder entsprechend hohe Bildungsziele anstreben und sie auch bei weniger guten schulischen Leistungen der Kinder durchsetzen. Nimmt man an, dass die Bildungsziele in der Mittel- und Oberschicht durchgängig hoch sind, kann man also sowohl mit der Werterwartungstheorie als auch mit dem Modell der Frameselektion erwarten, dass Ober- und Mittelschichteltern eher höhere Bildungsziele als Eltern aus der Unterschicht anstreben und diese Ziele auch bei schlechteren Schulleistungen ihrer Kinder verfolgen, während Unterschichtseltern dann eher die Ansprüche reduzieren. Während die Mittel- und Oberschichten eher „idealistische“ Bildungsaspirationen entwickeln, die zumindest teilweise von den tatsächlichen Schulleistungen der Kinder entkoppelt sind, findet man bei den Unterschichten eher „realistische“ Aspirationen (Haunberger & Teubner 2008; Paulus & Blossfeld 2007; Stocké 2013). (S. 103–104)
Vermutungen über das Verhalten von Mittel- und Unterschichteltern
Es ist also zu vermuten, dass vor allem in Bedrängnis geratene Angehörige der Mittelschicht in dieser Situation versuchen werden, zusätzliche Unterstützung notfalls auf dem Markt kommerzieller Nachhilfe zu mobilisieren, während Eltern aus der Unterschicht häufig auf keine zusätzlich externen Lernhilfen für ihre Kinder zurückgreifen und eher auf hohe Bildungsziele verzichten werden oder versuchen, ihren Kinder selber zu helfen. Hollenbach und Meier (2004) zeigen anhand von PISA-Daten, dass Hauptschüler häufiger als Gymnasiasten Hilfe von ihren Müttern „am Küchentisch“ bekommen, während Gymnasiasten, insbesondere bei einer Herkunft aus der Mittel- oder Oberschicht, häufiger bezahlte Nachhilfe erhalten. (S. 104–105)
Erklärungen für das Wachstum des Nachhilfemarktes
Durch die Bildungsexpansion hat die Konkurrenz um prestige- und einkommensträchtige berufliche Positionen zugenommen. Diese Konkurrenzsituation wird zusätzlich durch die Bildungsreformen der letzten Jahre, die u. a. zu einer hohen Leistungsverdichtung in den Schulen geführt haben, denen viele Kinder ohne zusätzliche Unterstützung nicht gewachsen sind, verschärft. Diese Unterstützung können die Eltern, selbst wenn sie den Lernstoff beherrschen, aus zeitlichen Gründen nur noch selten leisten. Und schließlich haben in der Mittelschicht die Ängste vor einem sozialen Abstieg zugenommen, was zunehmende Investitionen in die Ausbildung der Kinder begründen dürfte. Jede dieser Entwicklungen dürfte zur Erklärung des großen Wachstums des Nachhilfemarktes (Dohmen et al. 2008, S. 53ff.; Klemm & Klemm 2010; Mischo & Haag 2002) in Deutschland in den letzten Jahren beitragen. (S. 105)
Nachhilfe ist abhängig vom Familieneinkommen
Allerdings zeigen die Ergebnisse der Analyse zwar, dass die Inanspruchnahme von kommerzieller Nachhilfe kein Privileg vermögender Gruppen, sondern in allen Einkommensgruppen verbreitet ist, jedoch auch, dass das im Haushalt verfügbare Einkommen den Wünschen, auch in der Inanspruchnahme von Nachhilfe, Grenzen setzt. Bei gleicher Schulleistung ist es daher Kindern aus ärmeren Bevölkerungsschichten seltener möglich, auf Nachhilfe zurückzugreifen. Nehmen sie dennoch diese Leistungen in Anspruch, so werden diese Familien durch die Kosten der Nachhilfe deutlich stärker als einkommensstarke Haushalte belastet, da die einzubringende finanziellen Mittel für kommerzielle Nachhilfeleistungen für sie einen wesentlich höheren Anteil des verfügbaren Einkommens ausmachen. Bei vergleichbaren Bildungsaspirationen spielen also die den Eltern zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen eine maßgebliche Rolle und entscheiden über Umfang und Dauer der Inanspruchnahme. Daher verwundert es auch nicht, dass mit der Höhe des Einkommens auch die Nachhilfequote steigt. (S. 145–146)
Literaturverzeichnis Birkelbach, K., Dobischat, R. & Dobischat, B. (2016). Außerschulische Nachhilfe. Ein prosperierender Bildungsmarkt im Spannungsfeld zwischen kommerziellen und öffentlichen Interessen (Study / Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 348 (Februar 2017)). Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.
Zusammenfassende Grafik
Diese Grafik bietet die Studie als Überblick über ihr Ergebnis an:

Bericht: https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_348.pdf Grafik: https://www.boeckler.de/hbs_showpicture.htm?id=107600&chunk=1
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