Sichtweisen #85: Wo lebt denn der Realschullehrerverband?

Bildungsgerechtigkeit erreicht man nicht, wenn man das differenzierte Schulwesen unnötig in Frage stellt und eine Schule erwartet, die alle Abschlüsse anbieten soll.Das ist eine der Forderungen, die der Verband deutscher Realschullehrer heute an die Koalitionsverhandler von SPD, FDP und DIE GRÜNEN richtete.

„Eine Schule erwarten, die alle Abschlüsse anbieten soll“? Moment mal, gibt es die nicht schon? Ach ja, in folgenden Bundesländern finden sich Schularten mit mehreren Bildungsgängen und einer Vielfalt von Bezeichnungen:

Schulen mit mehreren Bildungsgängen

Baden-Württemberg:Werkrealschule
Gemeinschaftsschule
Bayern:Mittelschule [Da würde ich ein Fragezeichen setzen P.S.]
Berlin:Integrierte Sekundarschule
Gemeinschaftsschule
Brandenburg:Oberschule
Bremen:Sekundarschule
Oberschule
Hamburg:Stadtteilschule
Hessen:Verbundene Haupt- und Realschule
Mittelstufenschule
Förderstufe
Mecklenburg-Vorpommern:Regionale Schule
Niedersachsen:Oberschule
Nordrhein-WestfalenSekundarschule
Rheinland-Pfalz:Realschule plus
Saarland:Gemeinschaftsschule
Sachsen:Oberschule
Gemeinschaftsschule
Sachsen-Anhalt:Sekundarschule
Gemeinschaftsschule
Schleswig-Holstein:Gemeinschaftsschule
Thüringen:Regelschule
Gemeinschaftsschule
Quelle: https://eacea.ec.europa.eu/national-policies/eurydice/content/organisation-general-lower-secondary-education-14_de

Was will der VDR eigentlich?

Man wird aus der Pressemeldung nicht so ganz schlau. Dass die Forderungen erhoben werden, „zielführende Maßnahmen zur Sicherung der Lehrerversorgung, zur flächendeckenden Digitalisierung und zur Leistungsgerechtigkeit“ zu ergreifen, ist ja verständlich. Aber wieso wird dann auch noch verlautbart:

„Wer differenzierte Bildungswege vernachlässigt und schlechtredet, missachtet die Leistungen sowohl von Schülern als auch Lehrkräften an den jeweiligen Schularten“, betont der Bundesvorsitzende.

Ich fürchte, mit diesem Zitat offenbart der Bundesvorsitzende, dass er noch in den ideologischen Debatten der 1970er Jahre stecken geblieben ist. Wenn das differenzierte Schulsystem diskutiert wird, dann nicht um es „schlechtzureden“, sondern weil seine Probleme immer deutlicher hervortreten.

Um sie an dieser Stelle nur aufzuzählen (sie wurden und werden in diesem Blog hinlänglich genau beschrieben):

Das differenzierte Schulsystem ist in der Fläche nicht zu halten.

Ach, vielleicht doch ein Beleg, weil die Ignoranz des Bundesvorsitzenden gar so groß ist: In Bayern gab es im Schuljahr 2003/04 noch 1594 Hauptschulen. Diese hatten einen gewissen Schwund bis auf den Stand von 2020/21 mit 956 Mittelschulen. Das heißt: 4 von 10 Haupt-/Mittelschulen sind inzwischen von der Fläche, also der Bildfläche, verschwunden; sie wurden dichtgemacht, aufgelöst, „inaktiv gestellt“ wie das Spaenle-Ministerium es immer so nett umschrieb. Mit seiner Mittelschulreform konnte er den Schwund bremsen, aber seitdem waren es immer noch 10 Prozent aller Mittelschulen, die den Schrumpfungsprozess nicht überlebten. Quelle: © Bayerisches Landesamt für Statistik, Fürth 2021 | Stand: 14.10.2021 / 18:20:21.

Ist es dann nicht angebracht zu fragen, ob das differenzierte Bildungssystem eine Antwort auf den demografischen Wandel hat oder auf die Hoffnungen, die Eltern mit einer guten Schulbildung verbinden?

Der Übertritt nach der 4. Klasse ist nicht leistungsgerecht.

Man kann Leistungsgerechtigkeit sehr, sehr eng definieren, nämlich so, dass nur die Schülerinnen und Schüler die passende Leistung bringen, die (in Bayern) im 4. Schuljahr in Deutsch, Mathe und Heimat- und Sachkunde einen Schnitt von 2,33 – für das Gymnasium – oder 2,66 – für die Realschule – erreichen.

Dieser enge Begriff von Leistungsgerechtigkeit vernachlässigt die Ungenauigkeiten (und Ungerechtigkeiten) der Notengebung durch die Lehrkräfte ebenso wie äußere Einflüsse auf die Leistung eines Kindes (durch Krankheit, schlechten Unterricht, schlechte Aufgabenstellungen, Leistungsdruck, familiäre oder soziale Probleme) oder die nun wirklich hinlänglich bekannten primären, sekundären und tertiären Herkunftseffekte (u.a. hier beschrieben).

Ich fürchte…

… Rösner hatte Recht, als er 2007 über die Realschule schrieb, ihre Apologeten wehrten sich verzweifelt gegen die Übernahme dieser neuen Rolle als Basisbildungsgang.

Und so ist es ersichtlich das Bestreben vor allem der organisierten Realschullehrerschaft in Deutschland, das Auslaufen der Hauptschule zu verhindern.

(Rösner, E. (2007). Hauptschule am Ende. Ein Nachruf. Münster, S. 34)

Da liegt also der Hase im Pfeffer: Die Realschullehrer brauchen wohl die Haupt-/Mittelschule, um weiter eine Schulart „unter“ sich zu wissen, die die schwierigen Schüler/innen behält oder auffängt, wenn sie nicht mitkommen. Diese Art von Differenzierung des Unterrichts, die dann nötig wäre, weisen sie weit von sich, das würde den Unterricht verkomplizieren – man könnte auch sagen: anspruchsvoller machen.

Wenn es stimmt…

… was der Aktionsrat Bildung schon 2011 schrieb:

Die Aussage, Deutschland habe ein dreigliedriges Schulsystem, mag noch vor zehn Jahren gültig gewesen sein. Heute trifft sie nicht mehr zu.

(Blossfeld et al. 2011, S. 93)

… dann kämpft der Bundesvorsitzende hier ein Rückzugsgefecht, das er nicht gewinnen kann. Die Geschichte wird die Realschule – wie in den meisten Bundesländern so auch in Bayern – vereinnahmen und sie wird entweder in einer Form des gemeinsamen Lernens aufgehen (vielleicht auch gern, so wie zum Beispiel in Baden-Württemberg) oder eine etwas kleinere Rolle spielen in einem noch etwas mehr ausdifferenzierten Schulsystem.

Literaturhinweis

Blossfeld, H.-P., Bos, W., Daniel, H.-D., Hannover, B., Lenzen, D., Prenzel, M. & Wößmann, L. (2011). Bildungsreform 2000 – 2010 – 2020. Jahresgutachten 2011 (vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V., Hrsg.) (Jahresgutachten). München: Aktionsrat Bildung.

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