Sichtweisen #5: Übertrittsverfahren reformieren

Die Grünen in Bayern wollen an die Stelle des Übertrittszeugnisses ein Lernentwicklungsgespräch setzen, das in eine Empfehlung mündet. Die Entscheidung über den weiteren Schulweg bleibt den Eltern überlassen.

Mit diesem Antrag an den Bildungsausschuss bewegen sich die Grünen im Prinzip auf der gleichen Linie wie die bayerische SPD, die ein Gutachten hat anfertigen lassen, in welchem die Verfassungsgemäßheit des Übertrittsverfahrens angezweifelt wird, das primär durch Noten die Verteilung der Kinder auf die weiterführenden Schulen regelt. Dies wurde bereits in diesem Blog detailliert dargelegt.

Werfen wir einen Blick auf die Begründung

(Die Untergliederung des folgenden Zitats habe ich vorgenommen, um die argumentative Struktur hervorzuheben. P.S.)

Aus unserer Sicht ist der Übertritt von der 4. Klasse auf die weiterführenden Schulen im bayerischen Bildungssystem eine Schlüssel-, aber auch eine Schwachstelle.

  1. Das aktuelle System, demzufolge in der vierten Klasse nur drei Noten – in Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht – über drei Schularten entscheiden, ist weder kind- noch begabungsgerecht.
  2. Das Verfahren schadet der guten pädagogischen Arbeit an den Grundschulen,
  3. es belastet die betroffenen Lehrkräfte und Familien.
  4. In keinem anderen Bundesland hängt die Übertrittsempfehlung so sehr von leistungsunabhängigen Kriterien wie regionalem, sozialem und finanziellem Hintergrund ab, wie in Bayern.
  5. Die ganze Art, wie Leistung im bayerischen Schulsystem rückgemeldet wird, ist ungut und nicht zeitgemäß.

Ausnahme: vor zwei Jahren wurde die Möglichkeit geschaffen, in den Klassen eins bis drei das Zwischenzeugnis durch ein dokumentiertes Lernentwicklungsgespräch zu ersetzen. Seitdem haben in den Schuljahren 2014/2015 34 Prozent (766 Schulen) und 2015/2016 66,3 Prozent (1.519 Schulen) aller bayerischen Grundschulen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Schülerinnen und Schüler müssen wissen, wo sie stehen und Lernentwicklungsgespräche sind eine sehr professionelle Form, diese Leistung rückzumelden. Auch das Kultusministerium gibt an, dass die dokumentierten Lernentwicklungsgespräche hinsichtlich ihrer Prognosefähigkeit in hohem Maße verlässlich sind. Wir wollen die Übertrittszeugnisse in der vierten Klasse durch Lernentwicklungsgespräche ersetzen, um die Kinder beim Übergang auf ihren künftigen Lernweg durch gute Beratung und Hilfe zur Selbsteinschätzung bestmöglich zu begleiten.

Zu Argument 1

Das Übertrittsverfahren sei weder kind- noch begabungsgerecht: Damit nehmen die Grünen den Konsens der pädagogischen Forschung auf, der in diesem Blog bereits in mehreren Beiträgen dargestellt wurde (allgemeiner Überblick, Frage nach der pädagogischen Sinnhaftigkeit, das selbstwidersprüchliche Argument mit der Durchlässigkeit, die unterschiedlichen Übertrittsalter, die Eigenarten der „Übertrittsempfehlung“ und die angestrebte aber lediglich fiktive Homogenität der Schülergruppen).

Zu Argument 2 und 3

Das Verfahren schade der guten pädagogischen Arbeit der Grundschulen. Das ist die Dauerklage von Grundschullehrerinnen: dass man ab der 3. Klasse in den Rhythmus von Input und Probearbeiten gefangen sei, der sich in der 4. Klasse zuspitze, bis das ersehnte oder befürchtete Übertrittszeugnis Anfang Mai endlich ausgegeben werde. Diese Tests müssten alle juristisch hieb- und stichfest sein, sonst riefe man mit Anwälten gewappnete Eltern auf den Plan, die ihr Kind im Zweifelsfall aufs Gymnasium klagen würden. Diesen zweijährigen Stress für Kinder, Eltern und Lehrerinnen würde man sich gern ersparen. Aber da ist die CSU vor und mit ihr auch die Verbände der Realschullehrer und der Gymnasialen.

Zu Argument 4

In keinem anderen Bundesland…? Daran habe ich meine Zweifel, und ich glaube auch nicht, dass diese Zuspitzung nötig wäre. Den Stand der Forschung verstehe ich vielmehr so, dass überall da, wo es eine entwicklungspsychologisch betrachtet zu frühe und an Noten orientierte „verbindliche Übertrittsempfehlung“ (was für ein blühender Selbstwiderspruch!) gibt – also in Sachsen, Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern – leistungsfremde Aspekte eine zu große Rolle spielen, so dass das Übertrittsverfahren  eben genau das nicht bewirkt, was es bezweckt, nämlich die leistungsgerechte Aufteilung der Schülerschaft auf MS, RS und Gym.

Zu Argument 5

Die bayerische Leistungsrückmeldung sei ungut und nicht zeitgemäß. Auch dies ist nichts spezifisch Bayerisches, sondern ein Problem der Fixierung auf Noten, die es allerorten gibt. Da muss man generell zwei Motive auseinander halten:

Geht es um eine Leistungsrückmeldung, die das weitere Lernen verbessern soll – das nennen die Lernforscher „formative Evaluation“ -, dann sind Lernentwicklungsgespräche mit Schülern und Eltern bestens geeignet, aber Noten völlig fehl am Platz. Wer’s nicht glaubt, darf gern die einschlägigen Abschnitte der Hattiestudie zum Feedback nachlesen (Hattie 2009, S. 173 – 178).

Noten haben ihren Nutzen nur in einem auf Segregation angelegten System: Sie bieten ein (hoffentlich) objektives Kriterium zur weiteren Lernwegentscheidung oder für Betriebe zur Einstellung von Auszubildenden, für Abschlüsse usw.

Das weitere Argument der Landtagsgrünen stellt die pädagogische Sinnhaftigkeit des Lernentwicklungsgespräches – meines Erachtens schlüssig – unter Beweis.

Versteckte Annahme

Die Idealvorstellung der Grünen ist, dass sich die Eltern im Lernentwicklungsgespräch gut beraten lassen und eine zu ihrem Kind passende Schulartempfehlung erhalten, der sie dann auch folgen. Die Erfahrung in anderen Bundesländern zeigt aber, dass die Eltern tendenziell zu hoch greifen und meinen, es müsste dann aber doch das Gymnasium sein, oder wenigstens die Realschule.

Ausblick

Noch ist das Votum des Bildungsausschusses nicht bekannt. Man kann aber davon ausgehen, dass die CSU-Mehrheit diesen Antrag unabhängig von seiner pädagogischen Sinnhaftigkeit ablehnen wird. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass die CSU nach einiger – in Monaten oder Jahren zu messender – Zeit das Übertrittsverfahren selbst reformieren wird. Nur werden sie sich diese Modernisierung und Anpassung an die pädagogische Vernunft dann ans eigene Revers heften, wie sie das schon so häufig getan haben (siehe Ganztag oder Rückkehr zum G9).

Quelle: Landtagsdrucksache 17/16828 vom 10.05.2017

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