Gast #18: Rainer Geißler über institutionelle Diskriminierung im Schulsystem

geissler2Rainer Geißler ist Professor für Soziologie an der Universität Siegen mit den Arbeitsschwerpunkten Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit, Bildungssoziologie (insbes. Bildungsungleichheit), Integration von Migranten (u.a. kanadischer Multikulturalismus) sowie Soziologie der Massenkommunikation (u. a. Medien und Integration). Er war ein Jahr als Gastprofessor an der University of British Columbia in Vancouver tätig und ist Mitglied im Vorstand des Rates für Migration.

In einem Tagungsbeitrag berichtet er von verhinderten Bildungschancen bei den Nachkommen von Migranten.

Verschenkte Bildungsressourcen

Geißler, R. (2012). Verschenkte Bildungsressourcen durch Unterschichtung und institutionelle Defizite. Der Beitrag des vertikalen Paradigmas zur Erklärung und zum Verständnis der Bildungsungleichheit im Kontext von Migration. In P. Pielage, L. Pries & G. Schultze (Hrsg.), Soziale Ungleichheit in der Einwanderungsgesellschaft. Kategorien, Konzepte, Einflussfaktoren. Tagungsdokumentation im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung (Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 12–28).

Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen:

In der Bildungsforschung besteht seit langem Einigkeit darüber, dass große Teile der Nachkommen aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem erheblich benachteiligt sind. (S. 12)

Die Ursachen für diesen Missstand bringt er mit zwei Eigenschaften unseres Schulsystems in Verbindung (Hervorhebung von mir):

Unterentwickelte Förderkultur plus zu frühe Verteilung der Schüler

Da Deutschland zu denjenigen Gesellschaften gehört, wo die schichttypische Bildungsungleichheit am stärksten ausgeprägt ist, sind große Teile der jungen Menschen mit Migrationshintergrund einer doppelten Benachteiligung ausgesetzt: Neben den migrationsspezifischen Problemen stoßen sie auf besonders starke schichtspezifische Barrieren. Ein Vergleich mit der Situation in Kanada macht institutionelle Hindernisse für eine angemessene Kompetenzentwicklung und Bildungsbeteiligung bei den Migrantenachkommen sichtbar: Eine stark unterentwickelte institutionelle Förderkultur lässt in Kombination mit einer frühen Verteilung der Kinder auf Schulen mit ungleichen Lernmilieus und Lernniveaus leistungsfremde schichttypische Filter entstehen. Intellektuelle Ressourcen werden verschenkt. Es ist durchaus gerechtfertigt, diese Situation als „institutionelle Diskriminierung“ der Schülerschaft aus sozial schwachen Schichten zu bezeichnen, von der die jungen Menschen mit Migrationshintergrund wegen der tendenziellen Unterschichtung in besonderem Maße betroffen sind. (S. 12)

Unterschichtung

Was er mit „Unterschichtung“ meint, erläutert er wie folgt:

Mit dem Begriff der tendenziellen Unterschichtung ist die folgende Situation im vertikalen Aufbau einer Gesellschaft gemeint: Menschen mit Migrationshintergrund sind in den unteren Etagen des Schichtgefüges überrepräsentiert und in den mittleren und oberen Etagen unterrepräsentiert. Von den jungen Menschen mit Migrationshintergrund kommen also größere Anteile aus sozial schwachen Familien als von den jungen Einheimischen. (S. 13)

Dass Deutschland im Hinblick auf diese Unterschichtung negative Spitze ist, erläutert er mithilfe dieses Diagrammes (S. 13f):

Unterschichtung

Abbildung 1 belegt: Deutschland ist durch Migrantinnen und Migranten stärker tendenziell unterschichtet als die anderen wichtigen Einwanderungsländer der OECD. Etwas zugespitzt kann man formulieren: Deutschland ist extrem tendenziell unterschichtet.
Das Diagramm in Abbildung 1 stammt aus Daten der PISA-Studie 2006 und erfasst die Unterschiede im sozio-ökonomischen Status zwischen den Familien der 15-Jährigen mit und ohne Migrationshintergrund.

Schulleistungen und Abschlüsse

Diese extreme Schichtung wirkt sich auch auf das aus, was Migranten im deutschen Bildungssystem (nicht) erreichen. Zunächst der tabellarische Überblick, dann die Erläuterung (S. 15, Hervorhebung von mir):

Unterschichtung und Soziallage

Tabelle 1 macht deutlich, wie sich die tendenzielle Unterschichtung konkret auf die Soziallage der Migrantinnen und Migranten in Deutschland auswirkt. 14 Prozent der 25- bis 65-Jährigen haben keinen Schulabschluss, und 43 Prozent verfügen über keine abgeschlossene Berufsausbildung. 41 Prozent verdienen ihr Einkommen als Arbeiterinnen oder Arbeiter, zwölf Prozent müssen mit Minijobs vorlieb nehmen und 13 Prozent sind erwerbslos – Anteile und Quoten, die jeweils mindestens doppelt so hoch sind wie unter den Einheimischen. Angesichts dieser großen Probleme auf dem Arbeitsmarkt, die mit den niedrigen Qualifikationen zusammenhängen, ist es nicht verwunderlich, dass auch die Armutsrate der Migrantinnen und Migranten mit 25 Prozent mehr als doppelt so hoch ist wie bei Einheimischen.
Die extreme tendenzielle Unterschichtung in Deutschland ist die Hypothek, die uns die frühere Gastarbeiterpolitik, die bis zum Ende der Regierung Kohl andauernde offizielle Gastarbeiter-Ideologie, das lange Fehlen einer zukunftsorientierten Migrationspolitik sowie die damit zusammenhängenden Integrationsversäumnisse hinterlassen haben.

Aktuelle Notiz am Rande:

Wir erleben in Deutschland gerade die Diskussion um die Tafeln: Sollen / Dürfen sie auch für Mitbürger mit ausländischer Herkunft offen sein oder sich nur auf die Versorgung der deutschen Mitbürger konzentrieren?

Dass die Tafeln überhaupt in dieses Dilemma hineinmanövriert werden, ist keine Folge von schicksalhaften Entwicklungen oder einer von der politischen Rechte heraufbeschworenen „Ausländerflut“, sondern Ergebnis einer seit Jahren verfehlten Einwanderungspolitik. Rainer Geißler zeigt weiter unten auf, was Kanada uns diesbezüglich voraus hat. Wir müssten ja nur wollen.

Extrem unterschiedliche Schulleistungen durch doppelte Benachteiligung

Die extreme Unterschichtung hat in Deutschland extreme Folgen. Deutschland gehört zu denjenigen OECD-Ländern, wo die Unterschiede in den Schulleistungen zwischen oben und unten besonders stark ausgeprägt sind. […]

Ein großer Teil der jungen Migrantinnen und Migranten hat es also im deutschen Bildungssystem besonders schwer. Sie sind doppelt benachteiligt: Zu den migrationsspezifischen Nachteilen im engeren Sinne, die in Deutschland stärker ausgeprägt sind als in anderen Einwanderungsländern, kommen die schichttypischen Nachteile durch die extreme Unterschichtung mit ihren extremen Folgen. (S. 17)

Den Defizit-Blick ablegen…

Zu Recht wird seit einiger Zeit ab und zu gefordert, endlich einmal den „Defizit-Blick“ auf die Integrationsprobleme abzulegen. Dieser sucht die Ursachen für die Bildungsmisere der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Regel bei den Migrantinnen und Migranten selbst – bei den „Kulturdefiziten“ der Einwanderer, bei den „Sprachdefiziten“ der Migrantenfamilien und jungen Migrantinnen und Migranten, bei den „Bildungsdefiziten“ oder „Defiziten an kulturellem Kapital“ der Migranteneltern oder in seiner absurden, aber medienwirksamen Variante bei den „genetischen Defiziten“ bestimmter Migrantengruppen. (S. 17)

… und stattdessen strukturelle Ursachen in den Blick nehmen

Zahlreiche quantitative Auswertungen der Internationalen Assessment Studien – TIMSS, PISA, IGLU, Education Policy Analysis, Reading for Change – kommen zu einem übereinstimmenden Ergebnis: Je früher die selektive Trennung erfolgt, je früher junge Menschen auf verschiedene Ebenen eines hierarchisch gestuften Bildungssystems verteilt werden, umso größer sind die Leistungsunterschiede zwischen den Kindern und Jugendlichen aus den oberen und unteren Bereichen des Schichtgefüges. (S. 18)

Leistungsfremder Sozialfilter und die meritokratische Illusion

Schulleistungen spielen bei den Bildungschancen durchaus eine wichtige Rolle, aber sie offenbaren lediglich die halbe Wahrheit bei der Erklärung der schichttypischen Schulbesuchsquoten. So sind zum Beispiel die Chancen von 15-Jährigen aus der Oberen Dienstklasse, ein Gymnasium zu besuchen, um das Sechsfache größer als bei Facharbeiterkindern. Aber auch bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und Leseleistungen besuchen die statushöheren Jugendlichen immer noch dreimal häufiger ein Gymnasium. Die Hälfte dieser Unterschiede beim schichttypischen Besuch von Gymnasien hat also mit der Auslese nach Leistung nichts zu tun; im deutschen Bildungssystem existiert ein leistungsfremder sozialer Filter. Wer diesen Filter ignoriert, unterliegt einer meritokratischen Illusion und übersieht die verschenkten Ressourcen. (S. 18, Hervorhebungen von mir)

Im Folgenden nimmt sich Rainer Geißler ein Argument vor, dass im Zusammenhang mit später Trennung und heterogenen Gruppen immer wieder auftaucht: Aber die langsamen bremsen doch die schnellen Lerner! Dieser Irrtum wurde schon häufiger widerlegt, u.a. vom PISA Konsortium im executive summary von 2009.

Späte Trennung widerspricht nicht dem Leistungsprinzip

Wichtig ist dabei, dass eine spätere Trennung nicht mit dem Leistungsprinzip kollidiert; die Kompetenzentwicklung der Leistungsstarken wird nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil: In vielen Gesellschaften mit einem Sekundarbereich I ohne Niveaustufen, in denen alle – von den Lernbehinderten bis zu den Hochbegabten – neun oder zehn Jahre lang gemeinsam in einer Klasse lernen, ist nicht nur die Bildungsungleichheit erheblich kleiner, sondern auch das durchschnittliche Leistungsniveau höher. Die bessere Kompetenzentwicklung bei den Leistungsschwachen erfolgt nicht zu Lasten der Leistungsstarken. Das Mehr an Inklusion wird nicht mit einer Absenkung des Leistungsniveaus erkauft. (S. 18, Hervorhebungen von mir)

Die Ursachen für die leistungsfremden Filter liegen in den Familien und der Schule

Der leistungsfremde Filter hat seine Wurzeln sowohl in den Familien als auch in den Schulen. Viele Studien belegen, dass ein Teil der Eltern aus sozial schwachen Familien ihre Kinder auch bei guten Schulleistungen und bei Gymnasialempfehlungen der Grundschule nicht auf ein Gymnasium schickt. Die statushöheren Eltern verhalten sich genau umgekehrt: Ihre Kinder besuchen häufig auch bei schwächeren Leistungen und gegen den Rat der Lehrerinnen und Lehrer erfolgreich ein Gymnasium. Dieser familial bedingte soziale Filter wird in den Schulen wiederum nicht kompensiert, sondern durch teilweise nicht leistungsgerechte Lehrerbeurteilungen weiter verstärkt. Intellektuelle Ressourcen gehen insbesondere am Ende der Grundschulzeit verloren, weil die Laufbahnempfehlungen der Grundschule erheblich gegen das meritokratische Modell der schulischen Auslese verstoßen. (S. 18–19, meine Hervorhebung)

Zum Beleg für diese Behauptung zieht Geißler Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung heran.

Ergebnisse der IGLU-Studie

Je niedriger die Klassenzugehörigkeit der Schülerfamilien ist, umso höher sind die Leseleistungen, welche die Lehrkräfte ihren Kindern abverlangen, um sie als gymnasialtauglich einzustufen. Bei Kindern aus der Oberen Dienstklasse genügt eine unterdurchschnittliche Leseleistung. Facharbeiterkinder müssen dagegen um 44 Punkte und Kinder von Un- und Angelernten sogar um 66 Punkte besser sein als der Durchschnitt. (S. 19).

Dazu gehört diese Übersicht:

 

Gymnasialpräferenz

Diese eindeutige Diskriminierung ist allerdings nicht willkürlich; Lehrkräfte haben dabei durchaus etwas positiv Gemeintes im Sinn.

Wohlwollende Diskriminierung

Bei diesen Verstößen der Lehrerinnen und Lehrer gegen das meritokratische Prinzip muss es sich nicht von vornherein um schichtspezifische Voreingenommenheiten oder gar um bewusste und gezielte Diskriminierungen handeln. In vielen Fällen dürfte es eher eine „wohlwollende Diskriminierung“ sein – ein gut gemeinter Schutz vor antizipierten Misserfolgen auf Grund von vermuteten Defiziten an ökonomischen und psychologischen Ressourcen im Elternhaus. Angesichts der Vielzahl an schulischen Abstiegen in der Sekundarstufe I, von denen Jugendliche aus bildungsfernen Familien besonders häufig – z. T. wiederum unabhängig von ihren Leistungen – betroffen werden, sind derartige schichttypische Bedenken durchaus realistisch. (S. 19)

Folge dieses Wohlmeinens ist u.a., dass zu viele Potenziale nicht ausgeschöpft werden.

Unzureichende Ausschöpfung der Leistungsressourcen

Diese schichttypische Verteilung auf die unterschiedlichen Schultypen hat fatale Folgen. Seit der BIJU-Studie (Bildungsverläufe im Jugendalter) des Berliner Max-Planck-Instituts aus den 1990er Jahren ist es empirisch belegt, dass an den Gymnasien die Lernfortschritte aller Schülerinnen und Schüler – unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit, ihren kognitiven Grundfähigkeiten und ihren Schulleistungen – deutlich besser sind als an Realschulen, und an den Realschulen lernen alle wiederum mehr als an den Hauptschulen (Baumert et al. 2003: 287). Diese ungleichen Lernumwelten treiben die Oben-Unten-Schulleistungskluft immer weiter auseinander. Der Spreizeffekt wird noch zusätzlich durch die Verstöße der schichttypischen Auslese gegen das meritokratische Modell verstärkt. Während immerhin noch zwei Drittel der leistungsmittleren und ein Drittel der leistungsschwachen Dienstklassenkinder von den besseren Lernmilieus der Gymnasien profitieren, müssen ein Drittel der leistungsstarken, zwei Drittel der leistungsmittleren und 87 Prozent der leistungsschwachen Arbeiterkinder mit schwächeren Lernmilieus vorlieb nehmen. Die Entfaltung ihres Leistungspotenzials wird durch die mittelmäßigen bzw. schlechten Lernumwelten der Realschulen und Hauptschulen gebremst. Ihre Leistungsressourcen werden nur unzureichend entwickelt und ausgeschöpft. (S. 20)

Nun kommt Geißler auf eine selektive Grundhaltung zu sprechen, die in unserem Schulsystem tief verwurzelt ist:

Deutschland gehört zu den Meistern im Nichtunterstützen

In Deutschland ist die Kultur des Förderns stark unterentwickelt. Beim PISA-Index „Lehrerunterstützung“ im Jahr 2000 belegt Deutschland unter 32 Ländern den fünftletzten Platz. 2003 liegt es diesbezüglich unter 29 OECD-Ländern auf dem drittletzten Rang (Senkbeil et al. 2004: 300; Sacher 2005: 29). Deutschland gehört also zu den OECD-Meistern im Nichtunterstützen. (S. 20)

Statt zu fördern, wird lieber abgeschoben

So besteht z. B. im deutschen Schulsystem nur wenig institutioneller Druck, jungen Menschen mit Lerndefiziten spezifische individuelle Hilfen anzubieten. Stattdessen existieren allgemein akzeptierte, institutionalisierte „Abschiebemechanismen“ für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler. Klassenwiederholungen und schulische Abstiege in einen Schultyp mit niedrigerem Niveau, die zu den Selbstverständlichkeiten des deutschen Schulalltags gehören, ermöglichen es den Lehrkräften und Schulen, sich ihrer Problemkinder „zu entledigen“, statt sie zu fördern. (S. 21)

Gravierende institutionelle Defizite bei der Sprachförderung

Diese unpädagogische Grundhaltung lässt sich am Beispiel der Sprachförderung verdeutlichen – erst das Diagramm, das unsere Fördermaßnahmen mit Kanada und dem OECD-Durchschnitt kontrastiert, dann die Erläuterung:

Sprachförderung

Sehr deutlich werden die gravierenden institutionellen Defizite bei den sprachlichen Förderangeboten für junge Migrantinnen und Migranten in Tabelle 2 sichtbar. Unter den 21 wichtigen Einwanderungsländern der OECD ist Deutschland diejenige Gesellschaft, wo der Anteil der Schulen mit Förderunterricht in der Landessprache auch im Jahr 2009 noch am niedrigsten ist. Im OECD-Durchschnitt ist der Anteil der Schulen fast doppelt so hoch. Und auch bei den anderen sprachlichen Fördermaßnahmen im Sekundarbereich I liegt Deutschland auf den hinteren Rängen (Hertel et al. 2010: 127). (S. 21)

Der Kontrast zu Kanada

Dieser Blick über den Atlantik lohnt sich, weil das kanadische Schulsystem zwei Ziele optimal erreicht und miteinander verbindet: Hohe Leistungen und inklusive Schulbildung gehen Hand in Hand. Kanada hat bei den PISA-Studien hervorragend abgeschnitten; es gehört bei allen drei Kompetenzen – Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften – zur Spitzengruppe. Dennoch ist die schichttypische Leistungskluft erheblich kleiner als in Deutschland (vgl. Baumert/Schümer 2001: 385). Deutschland gehört im internationalen Vergleich zu den Spitzenreitern bei der Oben-Unten-Leistungskluft, Kanada zu den Schlusslichtern. Die Leistungen im unteren Viertel der Statushierarchie sind in Deutschland im Vergleich zum unteren Viertel in Kanada dramatisch schlechter. Mit einem Minus von ca. 60 bis 70 PISA-Punkten hinken die deutschen Jugendlichen um mindestens eineinhalb Jahre hinter den kanadischen her. (S. 21, meine Hervorhebungen)

Was machen die Kanadier anders?

Die folgende Aufstellung von Geißler möge man sich in aller Ruhe und Konzentration zu Gemüte führen (seine Zwischenüberschriften).

Neun bis zehn Jahre gemeinsames Lernen (Lernbehinderte bis Hochbegabte)
Kinder und Jugendliche lernen in der Regel vom 5. bis zum 15. oder 16. Lebensjahr gemeinsam in leistungsmäßig sehr heterogenen Klassen. Von den Lernbehinderten – diese sind in der Regel in die Klassen integriert – bis zu den Hochbegabten besuchen alle neun bis zehn Jahre lang den gemeinsamen Unterricht zunächst in der Primar- bzw. Elementarschule und danach in der Sekundarstufe I der High School. […]
Zurückstellungen vom Schulbeginn gibt es ebenso wenig wie Klassenwiederholungen. […]
Eine hoch entwickelte institutionalisierte Kultur des Förderns mit einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern
Die Entwicklung des Leistungspotenzials in heterogenen Lerngruppen setzt eine gut entwickelte und institutionalisierte Kultur des individuellen Förderns voraus. Kanada gehört zur Spitzengruppe der OECD-Länder, in denen die Schülerinnen und Schüler die Unterstützung durch ihre Lehrerinnen und Lehrer und auch das Schüler-Lehrer-Verhältnis am besten einschätzen (BMBF 2003: 91; Senkbeil et al. 2004: 300). Es verfügt über ein gut funktionierendes innerschulisches Unterstützungssystem und baut nicht auf außerschulische Unterstützung durch die Familie oder außerschulische Nachhilfe. […]

Genuine Ganztagsschulen
Der deutsche Schulalltag wird trotz der Bemühungen um den Ausbau der Ganztagsschulen weiterhin stark von der Halbtagsschule dominiert; höchstens fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler besuchen integrierte Ganztagsschulen. In Kanada ist dagegen der Schulbetrieb seit mehr als zwei Jahrzehnten nahezu ausschließlich auf Ganztagsschulen umgestellt. Diese unterscheiden sich nicht nur von den additiven Modellen der deutschen Ganztagsschulen – Coelen (2009: 1) nennt sie „halbierte“ Ganztagsschulen –, sondern auch von den bisher existierenden integrierten Modellen (Einsiedler et al. 2008: 371). Am ehesten entsprechen sie noch der schulpädagogischen Idealvorstellung einer ganztägigen Schule, die „auf der Hereinnahme (Inkorporation) bisherig außerschulischer Professionen und Situationen“ basiert (Coelen 2009: 22). […]

Eine andere Lehrerschaft: weniger Hierarchie – stärkere erzieherisch-pädagogische Orientierung – ganztags tätig – ständige Fortbildung
Andere Schulstrukturen erfordern eine andere Lehrerschaft. In Deutschland entspricht dem hierarchischen Schulsystem eine hierarchisch geschichtete Lehrerschaft mit den Gymnasiallehrerinnen und -lehrern an der Spitze, den Realschul- und Sonderschullehrerinnen in der Mitte, den Hauptschullehrern in der unteren Mitte, den Grundschullehrerinnen unten und schließlich den Erzieherinnen und Erziehern als Nichtdazugehörige, als Parias.
Abstufungen dieses Typs existieren in Kanada nicht. Zunächst einmal ist die Lehrerschaft, wie erwähnt, prinzipiell eine Ganztagslehrerschaft. Es gibt gewisse Unterschiede in der Länge der Ausbildung: Grundschullehrerinnen und -lehrer absolvieren ein vier- bis sechsjähriges Studium, Sekundarlehrer und -lehrerinnen ein fünf- bis sechsjähriges. Allerdings erlaubt das Teaching Certificate den meisten Lehrkräften – mit Ausnahme in den Provinzen Ontario und Quebec – das Unterrichten auf allen Schulstufen von der ersten bis zur zwölften Klasse (Link 2011: 236f.). Auch die Vorschullehrerinnen im „Kindergarten“ gehören zur professionalisierten Lehrerschaft. Ihre Berufsbezeichnung ist „teacher“. Sie haben mindestens vier Jahre studiert und unterscheiden sich in Einkommen und Ansehen kaum von den Schullehrerinnen und Schullehrern. […]

Denken über Schule: Entwickeln und Fördern statt Sortieren und Auslesen
Die deutsche Bildungs- und Sozialforschung schreibt dem Bildungssystem seit eh und je eine Selektionsfunktion zu und gibt damit die institutionellen Gegebenheiten und das Denken über Schule in Deutschland völlig zutreffend wieder. Den Kanadierinnen und Kanadiern ist ein solches Denken – wie Link (2011: 27f.) es zutreffend beobachtet hat – fremd. Sortieren und Auslesen fehlt im weitaus längsten Teil der kanadischen Schulkarrieren, es fehlt auch im Denken über Schule in der Bevölkerung, in der Politik, bei Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und Schülerinnen und Schülern, und es fehlt daher auch in der bildungs- und sozialwissenschaftlichen Literatur. Sortieren und Auslesen wird ersetzt durch Entwickeln und Fördern. (S. 22–25)

Bleibt die Frage: Warum steht in unserem Schulsystem das Sortieren und Auslesen so sehr im Vordergrund? Warum ist den bisher bestimmenden Menschen und Mächten die gesellschaftliche Schichtung so wichtig, dass wir sie unbedingt auch in unserem Schulsystem bis hinein in die Lehrerbesoldung abbilden müssen? Cui bono?

Wer hat einen Vorteil davon, dass Oberschichtkinder in der Regel besser und Unterschicht- und Migrantenkinder in der Regel schlechter bewertet werden als sie sind? Wenn man die Frage so stellt, dann liegt eine Antwort nicht fern. Aber sind das bewusste oder unbewusste Prozesse?

Auch hier wieder stellt sich die Frage nach einem möglichen Zusammenhang von Menschenbild und Schulstruktur.

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